Jubiläumsfilme des Aufführungsjahres 1918/19

Die erste deutsche parlamentarische Demokratie von 1918 bis 1933 bildete den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und künsterlischen Rahmen für eine der interessantesten Perioden der internationalen Filmgeschichte.

Stummfilme wie Robert Wienes expressionistischer Horrorfilm "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920), Friedrich Wilhelm Murnaus Vampirgeschichte "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" (1922) und Fritz Langs Science-Fiction-Monumentalfilm "Metropolis" (1927) entstanden in dieser Zeit, sind vielzitierte Meilensteine der Filmgeschichte und ziehen auch heute noch ein weltweites Publikum in ihren Bann.

Die Initiative "100 Jahre Stummfilm-Klassiker der Weimarer Republik" stellt jedes Jahr eine Auswahl an Filmen vor, die dann ihr hundertjähriges Veröffentlichungsjubiläum feiern. Die Zusammenstellung orientiert sich an der filmhistorischen Bedeutung der Werke, also an inhaltichen, technischen und gestalterischen Kriterien. Auch wurde die Rezeptionsgeschichte berücksichtigt. Die Zuordnung der Film an das jeweilige Jahr richtet sich nach den Uraufführungsterminen. Die Jubiläumsfilme der Aufführungsjahre 1918/1919 sind:

♦ "Carmen", Regie: Ernst Lubitsch, Uraufführung am 20.12.1918 in Berlin
♦ "Anders als die Andern", Regie:Richard Oswald, Uraufführung am 28.05.1919 in Berlin
♦ "Die Austernprinzessin", Regie: Ernst Lubitsch, Uraufführung am 20.06.1919 in Berlin
♦ "Madame Dubarry", Regie: Ernst Lubitsch, Uraufführung am 18.09.1919 in Berlin
♦ "Die Pest in Florenz", Regie: Otto Rippert, Uraufführung am 23.10.1919 im Berlin
♦ "Unheimliche Geschichten", Regie: Richard Oswald, Uraufführung am 05.11.1919 in Berlin
♦ "Nerven", Regie: Robert Reinert, Uraufführung im Dezember 1919 in München
♦ "Die Puppe", Regie: Ernst Lubitsch, Uraufführung am 05.12.1919 in Berlin

Stummfilm Magazin wünscht eine unterhaltsame und informative Reise in die Frühzeit des Kinos!

Filmkanon für die Aufführungsjahre 1918/1919

Pola Negri tanzt sich in die Herzen der Zuschauer

Die Geschichte ist wohlbekannt: Im Sevilla des frühen neunzehnten Jahrhunderts lebt die Zigeunerin Carmen (Pola Negri). Tagsüber arbeitet sie als Zigarrendreherin, abends tanzt sie und verdreht den Männern den Kopf. Nachdem sie in der Zigarrenfabrik in eine Messerstecherei gerät, wird sie von Sergeant José (Harry Liedtke) festgenommen. Aber auch José verfällt ihr und verhilft Carmen zur Flucht. Daraufhin wird er degradiert und selbst eingesperrt. Nun versucht Carmen ihn zu befreien, indem sie den Gefängniswärter becirct. Aber José denkt an seine Verlobte und entscheidet sich, die Strafe lieber abzusitzen. Carmen bandelt derweil mit einem Offizier an. Aus der Haft entlassen freut sich José keineswegs, als ihn seine Verlobte besucht. Lieber trifft er sich mit Carmen. Im intimen Moment vom Offizier überrascht, ersticht José diesen und muss fortan das Leben eines Verbrechers in Carmens Schmugglerbande führen. Aber Carmen verliebt sich – und diesmal richtig – in den Stierkämpfer Escamillo. Das kann José nicht ertragen. Er tötet die Geliebte.

Prosper Mérimée schrieb die Novelle "Carmen" im Jahr 1847, 1875 hatte Georges Bizets darauf basierende Oper ihre Uraufführung und bis 1918 war der Stoff bereits neunzehn Mal verfilmt worden, unter anderem von Cecil B. DeMille, Raoul Walsh und Charlie Chaplin. Aber wer Ernst Lubitschs Film heute sieht, kann keinen Zweifel daran haben, dass Pola Negri die einzig wahre Carmen ist. Sie macht sich die nicht einfache Rolle vollkommen zu eigen und gibt ihr Tiefe und Komplexität. Sie lässt uns das Lebensgefühl dieser jungen Frau außerhalb aller Konventionen nicht nur nachvollziehen, sondern feiern. Gleichzeitig ist nachvollziehbar, dass José ihr verfällt.

Pola Negris Darstellung ist hin- und mitreißend, vor allem in den zwei Tanzsequenzen im Film. Aber jeder Augenaufschlag, jede Drehung des Körpers ist bemerkenswert. Die Negri dominiert alles um sie herum, bis sie auf Escamillo trifft. Hier ändert sich ihr Auftreten schlagartig und es vermittelt sich dem Zuschauer deutlich, dass das keine Koketterie ist. Carmen, die alle Männerherzen gebrochen hatte, ist nun selbst verfallen.

Ernst Lubitsch überlässt seiner Hauptdarstellerin völlig die Bühne. Die Kamera schmeichelt Pola Negri durch den Film und fängt ihre Stimmungen in Großaufnahmen ein. Lediglich Harry Liedtkes José erfährt ab und zu noch ähnliche Beachtung. Alle anderen Charaktere werden zu Randfiguren, oft in komischen Vignetten. Alles dreht sich hier um Carmen und das Sevilla des Films ist lediglich ihre Bühne. Aber was für eine Bühne! "Carmen" ist Ernst Lubitschs erster Großfilm und er schwelgt hier lustvoll in aufwendigen Bauten und Kostümen. Hunderte von Komparsen strömen durch die minutiös nachempfundenen Straßen und Plätze.

Lubitsch blickte in einem Beitrag für die "Luxusnummer" der Lichtbild-Bühne für die Jahre 1924/1925 zurück: "Ein Kostümfilm! Mit Massen (was man damals Massen nannte). Und – die deutsche Filmindustrie hielt uns  für wahnsinnig – mit richtigen Bauten in Tempelhof. [...] Davidson hatte Zutrauen zu dem Film und bewilligte Beträge, die allen Nichtfachleuten damals unverständlich waren – heute braucht man sie an einem Tag. Die Komparserie großen Stils wurde erfunden, und als unsere paar hundert Mann in Tempelhof als spanisches Volk paradierten, war eine neue Epoche für die Statisterie angebrochen."

Sowohl Ernst Lubitsch als auch Pola Negri verdanken ihre Filmkarrieren zu einem großen Teil dem Wirken des Berliner Theaterzars Max Reinhardt. Er hatte Lubitsch 1911 ein Engagement am Deutschen Theater gegeben und 1918 die polnische Schauspielerin für die Warschauer Aufführung seiner Pantomime "Sumurn" gewonnen. Lubitsch und Negri drehten sieben Filme zusammen, sechs in Deutschland und den siebten, "Forbidden Paradise", 1924 in Hollywood, wohin beide 1922 übergesiedelt waren. Die Verträge dort erhielten Lubitsch und Negri, als nach dem außergewöhnlichen Erfolg von "Madame Dubarry" (1919) auch "Carmen" unter dem Titel "Gypsy Blood" in den USA die Kinosäle füllte.

In der Kritik aus Picture Play aus dem Jahre 1921 klingen die chauvinistischen Vorbehalte durchaus noch an, aber die Qualität des Produktes weiß dennoch zu überzeugen: "Auch wenn man mich vielleicht eines Mangels an Patriotismus beschuldigen wird, möchte ich doch einem weiteren ausländischen Film einen Orden anheften. Pola Negri, die Dubarry aus "Passion", hat wieder zugeschlagen. [...] Lubitsch und Pola Negri haben Lametta und Fransen über Bord geworfen. La Carmencita, wie sie von Fräulein Negri gespielt wird, ist ein übel beleumundetes, vulgäres und rauhbeiniges Zigeunermädchen. [...] "Gypsy Blood" ist nicht so geleckt und technisch vollkommen wie unsere amerikanischen Produktionen, aber der Film hat Feuer, Schmiss und ab und zu blitzt echte Inspiration auf."

Ernst Lubitsch wurde in Hollywood zum Starregisseur und mit seinem '"Lubitsch-Touch" stilbildend für das Genre der leichten erotischen Komödie. Der Erfolg blieb ihm bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1944 treu. Pola Negris Karriere in Hollywood war eher wechselhaft. Schlagzeilen machte sie vor allem durch ihre Liaison mit Rudolph Valentino. In den Dreißiger Jahren kehrte sie in das Deutschland des Dritten Reiches zurück und drehte noch einige Filme in Berlin.

Autor: Arndt Pawelczik

Credits
Titel: Carmen
Regie: Ernst Lubitsch
Drehbuch: Hanns Kräly, Norbert Falk
Kamera: Alfred Hansen
Bauten: Kurt Richter, Karl Machus
Darsteller: Pola Negri (Carmen), Harry Liedtke (Don José Navarro), Leopold von Ledebur (Stierkämpfer Escamillo), Grete Diercks (Don Josés Braut Dolores), Paul Biensfeldt (Schmuggler Garcia)
Produktionsfirma: Projektions-AG »Union« (PAGU) (Berlin)
Produzent: Paul Davidson
Uraufführung: 20.12.1918, Berlin, U.T. Kurfürstendamm

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Ein Aufklärungs- und Sittenfilm schreibt Geschichte

Vor 100 Jahren hätten es sich der österreichische Regisseur Richard Oswald und sein Berater, der deutsche Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, bei der gemeinsamen Produktion des sogenannten Aufklärungs- und Sittenfilms "Anders als die Andern" (Deutschland 1919) nicht einmal im Traum einfallen lassen, dass Schwule und Lesben einmal gleichberechtigt mit heterosexuellen Menschen Einlass in die Standesämter bekommen könnten.

Ein drängenderes, oft existenzbedrohendes Problem stand zu jener Zeit für „gleichgeschlechtlich Liebende“ im Vordergrund: die rechtliche Kriminalisierung von Homosexuellen aufgrund des Paragrafen 175, der einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern unter Strafe stellte.

"Anders als die Andern", das weltweit erste Kinowerk gegen die Diskriminierung von Schwulen, erzählt von einem Erpressungsdelikt im Zusammenhang mit dem § 175. In Hauptrollen sind Conrad Veidt, Fritz Schulz und Reinhold Schünzel zu sehen, in einer Nebenrolle die legendäre Anita Berber. Magnus Hirschfeld persönlich mimte einen Experten und forderte in ausführlichen Zwischentiteln die Abschaffung des Paragrafen. Es war nicht die erste Kooperation zwischen Oswald und Hirschfeld. Schon bei der zweiteiligen Produktion "Die Prostitution" (1919), ebenfalls mit den oben genannten Schauspieler/innen in tragenden Rollen, fungierte er als Ratgeber.

Hirschfeld war einer der weltweit bekanntesten Sexualwissenschaftler seiner Zeit. 1919 eröffnete er das Institut für Sexualwissenschaften. 22 Jahre zuvor hatte er – ebenfalls in Berlin – schon mit dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) die erste Homosexuellen-Organisation der Welt gegründet. Der zeitlebens Umstrittene und Angefeindete starb am 14. Mai 1935 in Nizza. Im Exil musste er miterleben, wie 1933 das Institut für Sexualwissenschaft von den Nationalsozialisten zerstört und die einzigartige wissenschaftliche Bibliothek verbrannt wurde.

"Anders als die Andern" war ein großer Erfolg an den Kinokassen und mit überdurchschnittlich vielen Kopien in Deutschland im Einsatz. In den Medien wurde er kontrovers diskutierten und die Vorführungen teilweise massiv gestört, wobei nicht nur homophobe, sondern auch antisemitische Hetze gegen Oswald und Hischfeld laut wurden. Der Film war dann auch einer der Auslöser, die erst achtzehn Monate zuvor abgeschaffte Filmzensur in der Weimarer Republik wieder einzuführen. Das sogenannte Lichtspielgesetz trat am 12. Mai 1920 in Kraft. Die Kopien von "Anders als die Andern" wurden vernichtet, nur noch ein vierzig Minuten langes Fragment ist erhalten.

Der im Film thematisierte § 175 wurde erst 1994, knapp 80 Jahre nach der Veröffentlichung von "Anders als die Andern" abgeschafft. Knapp 25 Jahre später, am 30. Juni 2017, beschloss dann der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend und mit deutlicher Mehrheit, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. Der Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) erklärte nach der Beschlussfassung von der "Ehe für Alle": "Das ist ein historischer Tag! Nicht nur für Lesben und Schwule, sondern auch für eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft. Ob man in Deutschland heiraten darf oder nicht entscheidet zukünftig nicht mehr das Geschlecht, sondern Liebe, Zusammenhalt und das Versprechen, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da zu sein."

Dieser Aussage hätte Magnus Hirschfeld bestimmt mit großer Begeisterung beigepflichtet.

Autor: Frank Hoyer

♦ Aktuelle Filmbesprechungen findet man zum Beispiel auch auf Spiegel Online, Deutsche Welle und Prisma Online.
♦ Literaturtipp: „Anders als die Andern. Ein Film und seine Geschichte" von James Steakley, Männerschwarm-Verlag, Hamburg 2007, ISBN 978-3-939542-43-8, mehr
♦ DVD-Tipp: Bei Edition Filmmuseum wurde eine sorgfältige Rekonstruktion von "Anders als die Andern" mit zahlreichen ergänzenden Materialien veröffentlicht. mehr
♦ Ausstellungstipp: Das Centrum Schwule Geschichte in Köln zeigt vom 06. bis 30. Juni 2019 im Landeshaus des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR, Kennedyufer 2, 50679 Köln) eine Ausstellung zur Historie des §175. mehr

Titel: Anders als die Andern
Regie: Richard Oswald
Drehbuch: Richard Oswald, Magnus Hirschfeld
Kamera: Max Faßbender
Darsteller: Conradt Veidt, Reinhold Schünzel, Fritz Schulz, Magnus Hirschfeld, Anita Berber, Ernst Tittschau, Alexandra Wiellegh, Ilse von Tasso-Lind, Wilhelm Diegelmann
Produktionsfirma: Richard Oswald Film-Produktion
Produzent: Richard Oswald
Uraufführung: 28.05.1919, Apollo-Theater Berlin

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Groteske Gags und eine emanzipierte Tochter
 

Die Tochter eines Schuhcreme-Millionärs hat sich einen Grafen geangelt. Unerhört, findet das die Tochter des amerikanischen Austern-Millionärs Quakers, und zertrümmert vor Wut das Interieur ihres Zimmers. Was die hat, will ich auch haben, findet die Austernprinzessin. Also muss Papa schnell einen Mann heranschaffen. Am besten gleich ein Prinz.

Das ist die  Ausgangssituation von Ernst Lubitschs groteskem Lustspiel „Die Austernprinzessin“, das Anfang 1919 seine Uraufführung in Berlin hatte. Die skurille Gesellschaftskomödie war die erste von insgesamt fünf Produktion des Regisseurs, die 1919 ins Kino kamen. Die Kritik überschlug sich vor Begeisterung und lobte die elegante Inszenierung, die extravagante Ausstattung und die Spielfreude der Darsteller, allen voran Ossi Oswalda.

Schon vor der „Austernprinzessin“ hatte Ernst Lubitsch bei verschiedenen Produktionen auf das komische Talent Ossi Oswaldas gesetzt, etwa mit einer der damals sehr beliebten Hosenrolle in „Ich möchte kein Mann sein“ (1918). Die am 02. Februar 1897 in Berlin-Niederschönhausen als Oswalda Stäglich geborene Schauspielerin gehörte, wie etwa Asta Nielsen und Henny Porten, zu den beliebtesten weiblichen Stars des deutschen Stummfilms. In den 1910er-Jahren hatte sie das Image des Backfisches, später wandelte sie sich zum exaltierten und wild tanzenden „Berliner Girl“.

Lubitschs „Austerprinzessin“ ist voller grotesker Gags und besticht durch die überbordende Fantasie, die nicht nur im Drehbuch, sondern auch in der Ausstattung von Kurt Richter zum Ausdruck kommt: Portaitfotos von Heiratwilligen pflastern die Wände eines Heiratsvermittlers, großformatige Ornamente auf dem Boden laden zu Springübungen ein und ein Prinz wohnt in einem heruntergekommenen Dachverschlag.    

Während die Karriere von Ernst Lubitsch in den USA einen kometenhaften Verlauf nahm (und er mit seinen elegant inszenierten Tonfilmen auch dort Filmgeschichte schrieb), war die Kinokarriere von Oswalda mit Beginn der Tonfilmzeit beendet. Sie starb am 07. März 1947 in Prag – veramt.

Autor: Frank Hoyer

Credits:
Regie: Ernst Lubitsch
Drehbuch: Hanns Kräly, Ernst Lubitsch
Kamera: Theodor Sparkuhl
Bauten: Kurt Richter
Darsteller: Ossi Oswalda (Ossi Quaker), Victor Janson (Mister Quaker), Harry Liedtke (Prinz Nuki), Julius Falkenstein (Josef), Max Kronert (Heiratsvermittler)
Produktionsfirma: Projektions-AG »Union« (PAGU) (Berlin)
Produzent: Paul Davidson
Uraufführung: 20.06.1919, Berlin, U.T. Kurfürstendamm

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Ein Erfolgsfilm aus Deutschland

In den Jahren 1920 und 1921 kam einer der ganz großen Kassenschlager in den USA aus dem Nichts. "Passion", ein scheinbar obskurer europäischer Film mit unbekannten Darstellern, füllte landesweit die Kinos. Im Original hieß das Werk "Madame Dubarry" und war eine deutsche Produktion. Das durfte das Kinopublikum in den USA des Jahres 1920 aber nicht wissen, denn die antideutsche Propaganda der Kriegszeit wirkte noch stark nach.

Im Deutschland der Inflationszeit ließen sich filmische Großproduktionen enorm günstig herstellen, und mit Ernst Lubitsch als Regisseur und Pola Negri als Star würde "Madame Dubarry" auch international erfolgreich sein, davon war zumindest K. J. Fritzsche, der Direktor der Transocean Film, überzeugt. Er verkaufte die Rechte an "Madame Dubarry" und zwei weiteren deutschen Produktionen an die amerikanische First National Film für 35.000 Dollar. Allein "Madame Dubarry" brachte der First National über eine Million Dollar ein. Bei den seinerzeitigen Wechselkursen hatten beide Seite an dem Deal gut verdient.

Ohne sich allzu eng um historische Wahrhaftigkeit zu bemühen, erzählt der Film die Geschichte der Madame Dubarry. Jeanne Vaubernier (Pola Negri), Hutmacherin in Paris zur Zeit Ludwigs XV, liebt den jungen Medizinstudenten Armand de Foix (Harry Liedtke). Als sich ihr jedoch die Gelegenheit zum sozialen Aufstieg in Gestalt des wesentlich älteren spanischen Gesandten Don Diego (Magnus Stifter) bietet, greift sie mit vollen Händen zu. Armand ist erbost darüber und tötet Don Diego in einem Duell. Angestiftet dazu wurde er vom Grafen Dubarry (Eduard von Winterstein), der selbst ein Auge auf Jeanne geworfen hat. Nach Armands Verhaftung wird Jeanne Dubarrys Mätresse.

Auf ihre Reize vertrauend schickt Dubarry Jeanne zum Minister Choiseul (Reinhold Schünzel), um eine Geldforderung gegen den König einzutreiben. Choiseul zeigt Jeanne zwar die kalte Schulter und lässt sie hinauswerfen, aber dabei erhascht der König (Emil Jannings) einen Blick auf sie und möchte gern mehr sehen. Er sendet seinen Kammerdiener Lebelle (Paul Biensfeld) nach ihr aus. Beim ersten Treffen zwischen König und Hutmacherin wickelt Jeanne Louis völlig um ihren Finger. Sie treibt für Dubarry die Geldforderung ein und erwirkt einen Gnadenerlass für den zum Tode verurteilten Armand. Jeanne wird nun zur offiziellen Mätresse Ludwigs XV, nachdem sie pro forma den Grafen Dubarry geheiratet hat.

Am Bourbonenhof wird in Luxus geschwelgt und eifrig intrigiert, während das Volk hungert. Das kann nicht lange gut gehen. Unter Führung von Armand erhebt sich das Volk und als dann auch noch der König stirbt, ist der Weg frei für Rache an seiner verhassten Mätresse. Armand ist in der unangenehmen Position, als Richter des Revolutionstribunals selbst das Todesurteil über die ehemalige Geliebte sprechen zu müssen. Reumütig versucht er ihr darauf zur Flucht zu verhelfen, wird aber entdeckt und selbst getötet. Die Gräfin Dubarry, ehemalige Jeanne Vaubernier, beendet ihr Leben unter der Guillotine.

Wenn man "Madame Dubarry" heute sieht, ist man erstaunt, wie schnell die nahezu zwei Stunden vorbei rauschen. Ernst Lubitsch ist hier mit untrüglichem Gespür für den Publikumsgeschmack ein sehr kurzweiliger Film gelungen. Er setzt dabei zwar durchaus auch auf die Wirkung von Massenszenen in grandiosen Kulissen – mit zweitausend Komparsen und opulenten Bauten lässt der Film das Paris der Revolutionsjahre wieder auferstehen. Vor allem baut der Film aber auf viele kleine intime Szenen, in denen die historischen Gestalten mit all ihren Schwächen individuell greifbar werden.

Dabei ist Lubitschs bevorzugtes Stilmittel das der Überzeichnung. Erwachsene, selbst Minister und Adlige, benehmen sich bei ihm gern äußerst kindisch, und das Publikum kann seinen Gefallen daran haben, wenn sogar der Herr König albern schäkert und den Reizen der Hutmacherin erliegt. Solche Überzeichnung braucht aber auch die entsprechenden Komödianten. Glücklicherweise kann sich Lubitsch in Berlin einer Garde von herausragenden Theaterschauspielern bedienen, die größtenteils auf den Bühnen Max Reinhardts spielen. So ist "Madame Dubarry" ohne die großartigen Leistungen von Pola Negri und Emil Jannings nicht vorstellbar, aber auch ohne Reinhold Schünzels wunderbar schnöseligen Choiseul und Paul Biensfeldts verschmitzten Lebelle fehlten zentrale Elemente.

"Madame Dubarry" will also keine dröge Geschichtsstunde sein, sondern bildet das pralle Leben ab, ohne sich allzu sehr um historische Akkuratheit zu sorgen. Das haben vor allem französische Kritiker dem Film übelgenommen. In den USA war er vermutlich gerade deshalb so erfolgreich. Der Kritiker des amerikanischen Branchenblatts Variety schrieb im Dezember 1920: "Dies ist eine anrührende Darstellung von Geschichte in filmischer Form [...] Der Regisseur Ernst Subitsch (sic!) schenkt dabei der Handlung die größte Beachtung und ordnet ihr alles andere unter. Das ist eine großartige Regieleistung."

Der erste Weltkrieg hatte die USA zur weltweit führenden Filmmacht werden lassen. Die europäische Filmindustrie war international ins Hintertreffen geraten und würde diesen Vorsprung Hollywoods nie wieder aufholen. In der besonderen Situation der Inflationszeit war es dem deutschen Film für ein paar Jahre möglich, der amerikanischen Konkurrenz die Stirn zu bieten. Das endete mit der Währungsreform 1923. Die mächtige Ufa würde in den 1920- und 1930-Jahren immer wieder versuchen, Hollywood weiterhin ernsthaft Konkurrenz zu machen, und sich dabei ruinieren.

Hollywood erkannte schnell, dass es europäischer Konkurrenz am besten dadurch begegnete, indem man Talente abwarb. Es begann mit Ernst Lubitsch und Pola Negri, die bereits 1922 Verträge bei amerikanischen Studios hatten und dort ihre erfolgreichen Filmkarrieren nahtlos fortführten. Emil Jannings folgte wenig später – wenn auch nur für wenige, dafür überaus beeindruckende Filme.

Autor: Arndt Pawelczik

Credits
Titel: Madame Dubarry
Regie: Ernst Lubitsch
Drehbuch: Hanns Kräly, Norbert Falk
Kamera:  Theodor Sparkuhl
Bauten: Kurt Richter, Karl Machus
Darsteller: Pola Negri (Madame Dubarry), Emil Jannings (König Louis XV.), Reinhold Schünzel (Staatsminister; Herzog von Choiseul), Harry Liedtke (Armand de Foix), Eduard von Winterstein (Graf Jean Dubarry), Paul Biensfeldt (Kammerdiener), Magnus Stifter (Don Diego), Victor Janson (Diener)
Produktionsfirma: Projektions-AG »Union« (PAGU) (Berlin)
Produzent: Paul Davidson
Uraufführung: 18.09.1919, Berlin, Ufa-Palast am Zoo

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Fritz Lang in den Startlöchern: Triumph der Schauwerte

Neben der 1917 aus der Fusion vieler kleiner Filmgesellschaften gegründeten Ufa war es im Jahr 1919 für Produktionsfirmen wie die Berliner Decla immer schwieriger zu bestehen, aber mit "Die Pest in Florenz" gelang Produzent Erich Pommer eine eindrucksvolle Demonstration der kommerziellen und künstlerischen Möglichkeiten seines Unternehmens. Als Regisseur verpflichtete Pommer den etablierten Otto Rippert, der vor allem mit seinen "Homunculus"-Filmen große Erfolge eingefahren hatte. Als Drehbuchautor wurde der aufsteigende Stern am deutschen Filmfirmament – Fritz Lang – engagiert.

1919 war das Durchbruchsjahr für Lang. Neben seinen ersten eigenen Regiearbeiten steuerte er weiterhin Drehbücher für andere Regisseure bei, deren überbordende narrative Phantasie den Bedürfnissen des Kinopublikums nach geographischer und historischer Exotik in besonderem Maße entgegen kam. Für "Die Pest in Florenz" plündert Langs Drehbuch Geschichte, Literatur und bildende Kunst hemmungslos nach Versatzstücken für einen beeindruckenden Bilderbogen, der sich wenig um historische Realität schert. Es verwendet die Namen der Medicis, lässt einen Büßermönch in Anlehnung an Savonarola auftreten, stellt Szenen aus Dantes Inferno und christliche Bildikonographien nach und leiht sich schließlich seinen letzten Akt aus Poes "Die Maske des roten Todes".

Das Florenz der Renaissance wird von einem strengen Rat der Ältesten regiert, der gnadenlos religiöse Moral einfordert und jegliche Ausgelassenheit verbietet. Aus Venedig kommt die Kurtisane Julia (Marga Kierska) in die Stadt und sofort der Fronleichnamsprozession in die Quere. Natürlich verliebt sich halb Florenz in sie, unter anderem Cesare, der Vorsitzende des Rats (Otto Mannstaedt), und sein Sohn Lorenzo (Anders Wikmann). Julia propagiert zwar die freie Liebe, verweigert sich aber Cesare, der ihr daraufhin den Kampf ansagt. Der Rat lässt Julia verhaften und foltern, aber schon stürmt Lorenzo an der Spitze der Florentiner den Palazzo Vecchio, erschlägt seinen Vater und befreit die Geliebte. Nun etablieren Lorenzo und Julia ein neues Regime der orgiastischen Ausschweifung in Florenz. Sie treiben es so weit, dass der Einsiedler Medardus (Theodor Becker) in die Stadt kommt, um die Einwohner zu maßregeln. Der einzige Erfolg seiner Mission ist aber, dass Julia und Medardus einander verfallen. Die Kurtisane sucht den Einsiedler unter einem Vorwand in seiner Klause auf. Sein Versuch, sie mit einer Vision der Hölle zu bekehren, misslingt, die Zwei werden ein Paar und unter Medardus steigern sich die Ausschweifungen in Florenz noch weiter. Als das Gottesgericht die Pest gegen die Stadt sendet, lassen Medardus und Julia die Tore schließen. Aber der Name des Films lässt bereits erahnen, wie wirksam diese Vorsichtsmaßnahme sein wird.

Die Handlung von "Die Pest in Florenz" ist wenig stringent, dient sie doch in erster Linie als Legitimation zum Abbrennen eines ästhetischen Feuerwerks. Die Bauten von Franz Jaffé sind so eindrucksvoll, dass es nur schwer vorstellbar ist, dass wir uns nicht tatsächlich auf der Piazza della Signoria, sondern auf einem Studiogelände in Berlin-Weissensee befinden. Der Nachbau des Palazzo Vecchio ist acht Stockwerke hoch. Die Loggia dei Lanzi mit ihren Skulpturen steht in Originalgröße daneben. Die Interieurs von Herrmann Warm sind nicht minder detailliert ausgefeilt. Kunstwerke, Wandmalereien, edle Stoffe und Möbel ermöglichen es dem Zuschauer, sich ganz der Illusion zu ergeben dabei zu sein. In diesen Kulissen bewegen sich hunderte von Statisten, gekleidet in realistisch anmutende Kostüme.

Diese Opulenz war vor allem durch die wirtschaftliche Lage der Inflationszeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs möglich. Geld war quasi wertlos, Statisten, Handwerker und Material waren für das sprichwörtliche Butterbrot zu haben und ein Bonmot sagte, dass sich eine deutsche Großproduktion allein durch die Einnahmen aus dem Verleih in der Schweiz finanzieren ließ. Ein wenig störend sind lediglich die Aufnahmen an realen Schauplätzen. Hier wirken Stadtpanoramen und Straßenszenen oft doch recht deutsch, ebenso wie der Mischwald um Medardus‘ Klause. Auch der barocke Schlosspark, der den Festen als Schauplatz dient, will nicht recht ins Florenz des Quattrocento passen.

Anders als in den meisten deutschen Stummfilmen trifft man in "Die Pest in Florenz" kaum auf bekannte Gesichter. Otto Rippert setzt hier größtenteils auf Bühnenschauspieler mit wenig Filmerfahrung oder sogar auf echte Neulinge, wie die Baronin Margareta von Kierska, die hier in ihrem ersten Film gleich die weibliche Hauptrolle spielt. Das Spiel der Akteure ist eher expressiv als naturalistisch und damit noch ganz dem Bühnenstil der Vorkriegszeit verhaftet. Augen rollen und Zungen zucken. Das sehen wir besonders gut, da die Kameraführung von Willy Hameister in "Die Pest in Florenz" im Gegensatz dazu sehr modern und fluide wirkt. Es gibt viele Großaufnahmen von Gesichtern, vor allem bei der Vernehmung der Kurtisane durch den Rat, die vermuten lassen, dass hier Dreyer Inspiration für seinem Jeanne d‘Arc-Film gefunden haben könnte.

Es gibt in "Die Pest in Florenz" keine wirklichen Identifikationsfiguren. Die Charaktere sind allesamt fehlbar – unmenschlich streng, lüstern, haltlos, leicht korrumpierbar. Die Handlung eilt fiebrig auf die im Titel angekündigte Katastrophe zu und scheint sie lustvoll herbeizusehnen. Lässt sich hier ein Abbild der Entstehungszeit des Films erkennen oder ist diese Parallele zu simplistisch? Das Hinwegfegen der etablierten Ordnung durch die Novemberrevolution, der Wegfall der Zensur, die empfundene Sittenlosigkeit und die katastrophale Grippeepidemie könnten als Vorlage für die Vorgänge in Florenz gedient haben.

Der Film zelebriert eine Lust am Untergang, vor allem aber zelebriert er die exotische Schönheit einer fernen Zeit. Die Vision der Filmschaffenden und besondere Umstände der Entstehungszeit haben hier eine Großproduktion ermöglicht, wie sie heute im deutschen Film kaum noch denkbar ist. Es sind die starken Bilder, die den Reiz von "Die Pest in Florenz" ausmachen, aber auch die Kühnheit, mit der hier inszeniert wird. Dank des Drehbuches von Fritz Lang, das die Handlung nicht aus Ehrfurcht vor dem historischen Sujet zu Tableaus erstarren lässt – wie zum Beispiel in Richard Oswalds „Lucrezia Borgia“ (1922) – ist der Film auch heute noch gut ansehbar.

Autor: Arndt Pawelczik

Credits
Titel: Die Pest in Florenz
Regie: Otto Rippert
Drehbuch: Fritz Lang
Kamera: Willy Hameister, Emil Schünemann
Bauten: Hermann Warm, Franz Jaffé, Walter Reimann, Walter Röhrig
Darsteller: Theodor Becker (Einsiedler), Marga Kierska (Kurtisane Julia), Julietta Brandt (Die Pest), Otto Mannstaedt (Cesare, der Machthaber von Florenz), Anders Wikmann (Lorenzo, Cesares Sohn), Karl Bernhard (Lorenzos Vertrauter), Franz Knaak (Kardinal), Erner Hübsch (Mönch), Auguste Prasch-Grevenberg (Julias erste Bedienerin), Hans Walter (Julias Vertrauter)
Produktionsfirma: Decla-Film-Ges. Holz & Co. (Berlin)
Produzent: Erich Pommer
Uraufführung: 23.10.1919, Berlin, Marmorhaus

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Gänsehaut im Fünferpack: Prototyp des gruseligen Episodenfilms

Richard Oswald ist eine der festen Größen im deutschen Stummfilm. Von 1914 bis 1929 drehte er 88 Filme quer durch alle Genres: Komödien, Historienschinken, Literaturverfilmungen und Dramen. "Unheimliche Geschichten" ist ein Film in dem Genre, das wir heute Horrorfilm nennen.

In einem Antiquariat hängen an der Wand Bilder, die den Teufel, den Tod und eine Dirne darstellen. Nachts erwachen die drei Gestalten zum Leben, steigen aus ihren Rahmen und erschrecken den Antiquar fast zu Tode. Danach vertreiben sich Teufel (Reinhold Schünzel), Tod (Conrad Veidt) und Dirne (Anita Berber) die Zeit mit dem Lesen von Schauergeschichten. Wir sehen fünf dieser Geschichten, in denen Berber, Schünzel und Veidt jeweils die Hauptrollen spielen.

In "Die Erscheinung" nach Anselma Heine rettet Conrad Veidt zunächst Anita Berber vor ihrem gewalttätigen Ex-Ehemann Reinhold Schünzel, nur um sie später unter mysteriösen Umständen in einem Hotel zu verlieren. In „Die Hand“ nach Robert Liebmann ermordet Schünzel Veidt, seinen Rivalen um Berbers Gunst, wird aber später von dessen Geist heimgesucht. "Die schwarze Katze" und "Der Selbstmörderclub" sind zwei klassische Schauergeschichten von Edgar Allen Poe und Robert Louis Stevenson. In ersterer wird Schünzels trunkener Mord an Berber durch Veidt (und die Katze) aufgedeckt. In letzterer gerät Schünzel in die satanischen Fänge eines Clubs unter Veidts Leitung. Die letzte Episode stammt aus der Feder des Regisseurs. In "Der Spuk" wehrt sich der barocke Edelmann Veidt auf kreative Weise gegen die amourösen Avancen, die sein Hausgast Schünzel der Gattin Anita Berber macht.

Richard Oswald schreckte nie vor riskanten Stoffen zurück, wohl auch um deren Publikumswirkung wissend. Titel wie "Die Prostitution" (1919) sprechen für sich, er verfilmte aber auch Skandalliteratur wie Margarete Böhmes "Dida Ibsens Geschichte" (1918). In diesen Filmen spielte bereits Anita Berber, die auch in 2Unheimliche Geschichten" alle Frauenrollen übernimmt. Auch bei dieser Besetzung darf man getrost kommerzielles Kalkül voraussetzen. Anita Berber stieg nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zum Skandalstar Berlins auf. Sie war Tänzerin, Aktmodell und wohl auch Prostituierte. Ihr sehr öffentlicher exzessiver Lebensstil brach mit allen Konventionen des untergegangenen Kaiserreichs und so wurde Anita Berber  zum Symbol der neuen Zeit. Ricarda D. Herbrand nennt sie die Todesgöttin der Inflationszeit (1). In der zweiten der unheimlichen Geschichten spielt Anita Berber eine Tänzerin. Glücklicherweise erlaubt uns der Film dadurch einen – wenn auch kurzen – Blick auf ihren seinerzeit ebenso innovativen wie skandalösen Tanzstil.

Auch Conrad Veidt und Reinhold Schünzel spielten viele Male unter Oswalds Regie. Während Veidt ein Jahr nach "Unheimliche Geschichten" durch seine Rolle in "Das Cabinet des Dr Caligari" Weltruhm erlangte und zu einem internationalen Filmstar der 1920er-Jahre wurde, verlegte sich Schünzel bald darauf immer stärker auf die Regiearbeit und drehte später mit "Viktor und Viktoria" (1933) und "Amphytrion" (1935) zwei der renommiertesten deutschen Tonfilmkomödien der Dreißiger Jahre. Wie viele andere Hauptakteure des deutschen Stummfilms verließen Oswald, Veidt und Schünzel nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten Deutschland und arbeiteten fortan in Hollywood. Anita Berber war bereits 1928 in Berlin gestorben.

Auch wenn „Unheimliche Geschichten“ vermutlich der erste episodische Horrorfilm überhaupt ist, so ist das Format doch im Grunde traditionell. Oswald kombiniert hier fünf Einakter, wie sie dem Publikum seit der Frühzeit des Films vertraut waren, mit der Rahmenhandlung zu einem abendfüllenden Format. Ebenso verweisen die Geschichten selbst eher in die Vergangenheit. Lediglich zwei haben ein zeitgenössisches Setting, zwei weitere spielen im neunzehnten, eine im achtzehnten Jahrhundert, und zwei greifen auf Klassiker der romantischen Schauergeschichte zurück, wie ja überhaupt die Romantik in Malerei und Dichtung eine der Hauptquellen der Bildwelt des deutschen Stummfilms ist.

Der Reiz von "Unheimliche Geschichten" liegt zum ganz großen Teil in den Schauspielern und ihrer Spielfreude. Das wird in allen Episoden deutlich, vor allem aber in der Rahmenhandlung. Hier können Veidt und Schünzel offensichtlich frei improvisieren, tun dies auch mit großem Gusto und ziehen Anita Berber mit. Carl Hoffmanns Kamera fängt das Spiel meisterhaft ein und zeigt dabei eine für 1919 ungewöhnlich große Variabilität, die von der Totale bis zur extremen Nahaufnahme reicht. Der Film ist zudem flott geschnitten und die episodenhafte Erzählweise läßt ohnehin keine Längen aufkommen. 

Anmerkung (1): Ricarda D. Herbrand: Göttin und Idol. Anita Berber und Marlene Dietrich. Aufbruch in die Moderne – Drogen in den Zwanzigern (Skript; Memento vom 16. Oktober 2003 im Internet Archive), 2003 ​

Autor: Arndt Pawelczik

Credits
Titel: Unheimliche Geschichten
Regie: Richard Oswald
Drehbuch: Richard Oswald
Kamera: Carl Hoffmann
Bauten: Julius Hahlo
Darsteller: Anita Berber (Dirne), Reinhold Schünzel (Teufel), Conrad Veidt (Tod), Bernhard Goetzke (Gast bei Séance)
Produktionsfirma: Richard Oswald-Film AG (Berlin)
Produzent: Richard Oswald
Uraufführung: 05.11.1919, Berlin, Ufa-Theater

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Am Nerv der Zeit

Der Erste Weltkrieg ist vorbei, die junge Weimarer Republik ist von Aufständen und Arbeiterstreiks geschüttelt. Dies ist der gesellschaftspolitische Hintergrund für Robert Reinerts Epos "Nerven", der im Dezember 1919 in die deutschen Kinos kommt. Reinert ist zu dieser Zeit kein unbeschriebenes Blatt mehr im Filmgeschäft. So schreibt er das Drehbuch für Otto Ripperts "Homunculus", einem überaus erfolgreichen sechsteiligen Serial über einen künstlichen Menschen, und ist bei "Opium" sowohl für die Regie als auch das Drehbuch verantwortlich.

Bei „Nerven“ zieht Reinert alle Register, sowohl inhaltlich als auch in der visuellen Umsetzung des dramatischen Stoffes. Er entfaltete vor dem Zuschauer ein Tableau an Schicksalen, die miteinander in Liebe und Tod, Reinheit und Betrug, Idealismus und Wahnsinn verwoben sind. Dabei stellt der Regisseur die These auf, dass der Erste Weltkrieg und die darauffolgenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu einer Art kollektiven Nervenleiden geführt hätten.

Stilistisch spielt „Nerven“ gekonnt mit Licht und Schatten und erzeugte halluzinierend wirkende Effekte durch Mehrfachbelichtungen. Die Bildkompositionen sind oftmals durch Fensterkreuze beherrscht oder eine dramatisierende Vorder-/Hintergrundkomposition gekennzeichnet. Reinerts Arbeiten für den Film sind so ein frühes Zeugnis für expressionistische Tendenzen im deutschen Kino, die vor Robert Wienes "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920), der gemeinhin als erster expressionistischer Film der Kinogeschichte gilt, datieren.

"Nerven" ist eines der letzten von ca. dreißig Werken von Robert Reinert. Bereits 1928 stirbt der 1872 in Wien geborene Filmschaffende in Berlin. Lange war der Ausnahmeregisseur vergessen, auch weil seine Filme nicht oder nur in dürftigen Fassungen zugänglich waren. Dem Filmmuseum München ist es zu verdanken, dass "Nerven" in rekonstruierter Fassung und als gelungene DVD-Edition zur Verfügung steht. Auch seine Mitarbeit an "Homunculus" kann mittlerweile durch die restauratorischen Bemühungen der Münchner wieder gewürdigt werden.

Autor: Richard Siedhoff

Titel: Nerven
Regie: Robert Reinert
Drehbuch: Robert Reinert
Kamera: Helma Lerski
Darsteller: Eduard von Winterstein, Lya Borée, Erna Morena, Paul Bender, Lili Dominici, Rio Ellbon
Produktionsfirma: Monumental-Film
Produzent: Robert Reinert
Uraufführung: Dezember.1919, Berlin, Marmorhaus

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Märchenhaftes Chaos

Ernst Lubitsch hielt in einem Brief aus seinen letzten Lebensjahren „Die Puppe“ für einen seiner einfallsreichsten Filme, die er gemacht habe.

Im Mittelpunkt der Handlung steht die quirlige Ossi Oswalda. Sie spielt die Tochter eines Herstellers von mechanischen, ausgesprochen realitätsnahen Puppen (heute würde man das humanoide Roboter nennen). Als eine nach dem Ebenbild von Ossi gestaltete Puppe kurz vor der Auslieferung kaputt geht, springt die Tochter als deren Ersatz ein. Der gute Ruf von Papas Firma soll ja nicht beschädigt werden und eine neue mechanische Ersatzpuppe ist ja schnell zusammengeschraubt, so zumindest denken es sich die Beteiligten. Zum Entzücken des Publikums nimmt das Chaos auf der Leinwand dann erst richtig seine Lauf – bis alle Missverständnisse aufgeklärt sind und die echte Ossi unter der Haube kommt.

Der satirisch-groteske Film, sehr frei nach Motiven von E. T. A. Hoffmann, zündet nicht nur in den Spielszenen ein Dauerfeuerwerk an Gags, sondern auch durch seine Zwischentitel voller Wortwitz. Auch heute noch! Nur die katholische Kirche hatte wohl damals nichts zu lachen: Szenen in einem Kloster zeichnen nicht gerade ein vorteilhaftes Bild vom Lebenswandel der dortigen Mönche.

Der Film bescherte dem seinerzeit beliebten "Backfisch der Nation", der Schauspielerin Ossi Oswalda, eine Paraderolle. Oswalda war in einer Vielzahl von Lubitsch-Filmen im Mittelpunkt des Geschehens, unter anderem in den wahnwitzigen Komödien „Ich möchte kein Mann sein“ (D 1918) und die „Austernprinzessin" (D 1919). Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm gelang der einst berühmten Schauspielerin nicht. Sie starb vergessen und verarmt im Jahr 1947 in Prag.

Die meisten Kulissen des Films, kreiert von Kurt Richter, bestanden aus Pappe, einige sogar nur aus Papier. Gedreht wurde in den Berliner Ufa-Union-Ateliers in Tempelhof nach einem Drehbuch von Hanns Kräly und Ernst Lubitsch. Neben Kräly setzte der Regisseur auch bei dieser Produktion auf einen Stamm bewährter Mitarbeiter/innen, darunter der bereits genannte Ausstatter Kurt Richter und der Kameramann Theodor Sparkuhl. Der Film liegt in einer von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung hervorragend restaurierten Fassung vor.

Autor: Frank Hoyer

Credits
Titel: Die Puppe
Regie: Ernst Lubitsch
Drehbuch: Hanns Kräly, Ernst Lubitsch
Kamera: Theodor Sparkuhl
Ausstattung: Kurt Richter
Darsteller: Ossi Oswalda, Hermann Thimig, Victor Janson, Jakob Tiedtke, Gerhard Ritterband, Marga Köhler, Max Kronert, Paul Morgan, Josefine Dora
Produzent: Paul Davidson
Produktionsfirma: Projektions-AG „Union“
Uraufführung: 05.12.1919, Berlin, Ufa-Palast am Zoo

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