Talk zur Blu-ray-Weltpremiere von "Hilde Warren und der Tod"

Das Label ostalgica veröffentlicht in einer neuen Reihe unter dem Titel "Stumme Filmkunstwerke" am 31. März 2023 "Hilde Warren und der Tod" als Blu-ray-Erstveröffentlichung.

Für den Joe-May-Film aus dem Jahr 1917 schrieb Fritz Lang das Drehbuch. Stummfilm Magazin sprach mit Andreas Bierschenk von ostalgica und den 35MM-Redakteuren Lars Johansen, Marco Koch und Clemens Williges über den Film und die Blu-ray.

Das gibt es bei einer Stummfilmveröffentlichung auch nicht alle Tage: In den OFDb-Verkaufscharts der sechsten Kalenderwoche ist die für März angekündigte "Hilde Warren"-Blu-ray schon auf Platz 6. Wie erklären Sie sich den Zuspruch?

Andreas Bierschenk: Es freut mich natürlich, so etwas zu sehen. Allerdings sollten solche Charts nicht überbewertet werden. Für Außenstehende sieht das sicher gut aus, aber wenn man die Verkaufszahlen dahinter sieht, relativiert sich das recht schnell. Manchmal reicht es schon, wenn ein einzelner Kunde geordert hat, um in den Charts aufzutauchen. Das hängt ja immer davon ab, wie viele Kunden überhaupt an diesen Tagen irgendeinen Artikel bestellt haben. Interessant wird es erst, wenn ein Produkt mehrere Wochen unter den ersten 10 platziert ist. Alles andere sieht einfach nur schön aus. Aber ja, es gab bisher schon großen Zuspruch für diese Veröffentlichung. Ich glaube es liegt einfach daran, dass Menschen, die noch physische Medien kaufen und nicht ausschließlich streamen, an Filmen interessiert sind, die eben nicht überall zu finden sind und bei denen man hoffentlich freudig überrascht ist, dass sie auf Blu-ray erscheinen.

Clemens Williges: Andreas hat mit den Veröffentlichungen auf seinem Label ostalgica viel Vertrauen bei Klassikerfreunden erworben. Insbesondere die "Classic Chiller Collection" mit inzwischen 20 Beiträgen hat für den deutschen Heimkinomarkt Maßstäbe gesetzt. Ich denke, die "Hilde Warren"-Blu-ray wird nicht nur von eingefleischten Stummfilmfans vorbestellt, sondern auch von Menschen, die auf die Filmauswahl von ostalgica vertrauen. Ich persönlich bin früher gerne in kuratierte Reihen im Kino gegangen. So etwas gibt es jenseits der ganz großen Städte heutzutage kaum noch. Die Rolle des Kurators wird zunehmend von Heimkinolabels ausgefüllt.

Marco Koch: Ich bin ehrlich gesagt auch sehr überrascht. Damit hätte ich nicht gerechnet. Aber es freut mich wirklich sehr. Vielleicht wird damit auch die Mühe honoriert, die sich ostalgica mit dieser Veröffentlichung gegeben hat. Die früheren Stummfilm-Veröffentlichungen von Transit waren, was die Ausstattung angeht, ja eher traurig. Ich denke, diejenigen, die heute noch physische Medien kaufen, wissen das bei ostalgica zu schätzen. Vielleicht glauben einige aber auch, es würde sich hier um einen verschollenen Horrorfilm handeln und sind deshalb neugierig geworden. Bis auf das phantastische Element des Tods, der immer wieder auftaucht – bei dem es sich aber auch um eine Einbildung Hilde Warrens handeln kann – ist der Film ein lupenreines und feines Melodram. Ja, eigentlich sogar dem Gangsterfilm näher als dem Gruselfilm.

Lars Johansen: Vielleicht haben Menschen einfach keine Lust mehr auf einen visuellen Overkill und empfinden Stummfilm-Veröffentlichungen als etwas Kontemplatives. Vielleicht ist die Drehzeit durch Serien wie „Babylon Berlin“ wieder näher an ein kollektives kulturelles Bewusstsein gerückt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Veröffentlichung tatsächlich eine Sensation darstellt. Einen eher unbekannten über 100 Jahre alten Film erstmals digital auszuwerten, das ist schlicht großartig.

Für das Label ostalgica ist es die erste Stummfilmveröffentlichung? Wie kam es dazu?

Andreas Bierschenk: Als kleines Label ohne großes Budget und Verbindungen zu den ganz großen Vertriebsfirmen muss man sich eine Nische suchen, die nicht von den Marktführern belegt ist, sonst hat man keine Chance. Nun muss ich damit, erfreulicherweise, nicht meinen Lebensunterhalt verdienen, sondern mache das alles nur aus Liebe zum Film. Ursprünglich hatte ich einen Onlineshop für DDR-Spielzeug und -Literatur. Als ich dann auch russische Film aufnehmen wollte, hat sich der Name fast aufgedrängt: Nostalgie aus dem Osten. Man hat mir schon mehrfach geraten, den Labelnamen zu wechseln, aber ich hänge an der Geschichte und werde vorerst nichts daran ändern, obwohl sich natürlich erst einmal die Frage stellt, was etwa Roger Corman mit „ostalgica“ zu tun hat. In erster Linie habe ich in den DVD-Regalen die Filme aus meinen Jugendtagen vermisst. Ich fand es bedauerlich, dass etliche dieser Streifen nicht auf Video erhältlich oder nicht wenigstens häufiger im Fernsehen zu sehen waren. Ich war schon als Kind großer SF-Fan, und diese Vorliebe ist bis heute – wenig verwunderlich eigentlich – mein Steckenpferd geblieben. Also habe ich mich über einen langen Zeitraum in dieses "Business" eingearbeitet und dann endlich meine erste DVD-Veröffentlichung realisieren können: "Die Erfindung des Verderbens". Der Titel war ein Riesenerfolg. Nur deshalb habe ich weitergemacht. Leider hat sich im Laufe der Zeit herausgestellt, dass dies ein "One Hit Wonder" war. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben und bin noch da. Jetzt mit dem Versuch, noch nie gezeigte Stummfilmklassiker ansprechend zu präsentieren.

Lars Johansen: Ein wenig habe ich Andreas auch dazu überredet. Daher hoffe ich auch, dass es sich halbwegs gut verkauft. Und ich freue mich über seinen Mut. Das deutsche Stummfilmerbe ist bis heute viel zu schlecht erschlossen, obwohl es von hoher Bedeutung für die kulturelle Identität dieses Landes ist. Mit dieser Veröffentlichung wird wieder eine Lücke geschlossen.

Um was geht es in "Hilde Warren und der Tod"?

Lars Johansen: Es ist die Geschichte einer scheinbar erfolgreichen und glücklichen Frau, die am Anfang den Tod zurückweist und ihn erst nach vielen persönlichen Schicksalsschlägen akzeptieren mag. Diese Faszination für den Tod zieht sich durch Fritz Langs ganzes Werk.

Wie ist "Hilde Warren und der Tod" im Œuvre der beiden Filmemacher Fritz Lang und Joe May zu verorten?

Marco Koch: Fritz Lang stand ganz am Anfang seiner Karriere und "Hilde Warren und der Tod" war eines seiner ersten Drehbücher. Joe May war, das vergisst man heute leider immer wieder, damals schon ein sehr bekannter und bedeutender Name, der bereits seit fünf Jahren im Geschäft war. Mit eigener Produktionsfirma und mindestens zwei supererfolgreichen Detektiv-Serien in den Kinos. Sowohl für Lang als auch May sollten dann aber die Folgejahre die wichtigeren in der Karriere werden. Lang konnte 1919 seinen ersten Film als Regisseur drehen und May im selben Jahr seine monumentale, achtteilige Filmsaga "Herrin der Welt" realisieren (an der Lang auch ein wenig als Autor mitwerkelte), und später dann seinen vielleicht heute bekanntesten Film, den zweiteiligen "Das indische Grabmal" – wieder nach einem Drehbuch, an dem Lang mitschrieb.

Zwischen Fritz Lang und Joe May soll es, zumindest gegen Ende ihrer gemeinsamen Schaffensphase, nicht immer ganz störungsfrei gelaufen sein ...

Clemens Williges: Ja. Auf diesen Aspekt gehe ich in meinem Bookletessay "Fritz, Joe, Mia und der Tod" ein: Ein Fritz-Lang-Herzensprojekt war der exotisch-monumentale Zweiteiler "Das indische Grabmal" (1921) nach dem Erfolgsroman von Thea von Harbou. Joe May war von dem Drehbuch so begeistert, dass er selbst die Regie übernahm. Seiner Enttäuschung darüber hat Fritz Lang in zahlreichen Interviews im Laufe seiner Karriere immer wieder Ausdruck verliehen. Damit prägte Lang den Blick auf May bis heute.

Die Veröffentlichungsdaten der Filme legen nahe, dass Lang und May von 1917 bis 1921 zusammenarbeiteten. Doch die "gemeinsame Schaffensphase" dauerte nur knapp ein Jahr. Das Drehbuch zu "Hilde Warren" kaufte May dem Anfänger Lang bei einem Wienaufenthalt ab. In die Berliner Filmindustrie wurde Lang vom Produzenten Erich Pommer geholt. Weil dieser ihm nicht die Regie zu "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) übertrug, wechselte Lang zur Produktionsfirma von Joe May. Sowohl bei Pommers "Caligari" als auch Mays "Grabmal" handelte es sich um aufwendige Prestigeprojekte. Und obwohl Fritz Langs Karriere als Drehbuchautor sowie bald auch Regisseur in den Jahren 1919/20 beeindruckend verlief, ist es aus Produzentenperspektive absolut verständlich, dass er nicht mit der Regie dieser beiden Filme beauftragt wurde.

Fritz Lang kehrte zu Erich Pommer zurück. Das knappe Jahr bei Joe May war aber äußerst bedeutsam für den weiteren Verlauf der Filmgeschichte. Denn bei May lernte Lang Thea von Harbou kennen. Gemeinsam schufen sie Klassiker wie "Der müde Tod" (1921) und "Metropolis" (1927).

Was ist über die Produktionsgeschichte von “Hilde Warren und der Tod” bekannt?

Marco Koch: Das meiste dazu hat Clemens ja eben schon erzählt. "Hilde Warren und der Tod" war ja erst Langs drittes Drehbuch und alle drei entstanden in recht kurzer Zeit hintereinander. Man sollte vielleicht noch etwas zur Hauptdarstellerin Mia May erzählen. Sie war Joe Mays Ehefrau, von der er auch den Nachnamen May übernahm, und bereits vor ihrer Filmkarriere erfolgreich am Theater. Sie wurde dann von May systematisch zum Kinostar aufgebaut. Vor allem durch dramatische Filme wie eben auch "Hilde Warren und der Tod". Unbedingt erwähnen muss man aber auch Bruno Kastner. Heute vollkommen vergessen, war er damals der beliebteste und von der Damenwelt begehrteste Leinwandschauspieler. Später kostete ihn ein schwerer Motorradunfall, von dem er sich nie wieder richtig erholte, das Alter und vor allem der aufkommende Tonfilm (er war ein Stotterer) erst die Karriere und dann das Leben, als er sich mit nur 42 eben jenes nahm.

Können Sie uns einen Einblick in die Restaurierung des Films geben?

Andreas Bierschenk: Im Jahr 2001 entstand in Zusammenarbeit von Bundesarchiv-Filmarchiv und Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung eine Restaurierung. Vervollständigt wurden die Zwischentitel aus dem Negativ anhand einer Titelliste der Deutschen Kinemathek. Das Master der Restaurierung wurde 2016 in 2K digitalisiert. Dies alles war aber nur mit Mitteln der Filmförderung möglich. Heute nun im Jahr 2023, erscheint der Film erstmals in Deutschland auf Blu-ray.

Wie sieht es mit der musikalischen Begleitung aus?

Andreas Bierschenk: Es freut mich ganz besonders, dass für die Vertonung gleich zwei Musiken eingespielt werden konnten. Der Zuschauer kann dabei vergleichen, ob ihm eine klassische Klavieruntermalung von Jochen Schlierkamp oder ein moderner Soundtrack mehr zusagt. Letzterer wurde von Julian Gramm eingespielt (DTS-HD Master Audio 2.0, Hi-Res 96/24) und bildet einen wunderbaren Kontrast zur herkömmlichen Klavierbegleitung. Im Booklet finden sich weiterführende Informationen über den Musiker.

Auf welches Bonusmaterial können sich die Blu-ray-Fans freuen?

Andreas Bierschenk: Der Zeit geschuldet kann man bei 100 Jahre alten Filmen natürlich keine Interviews mit Darstellern, Deleted Scenes, Fun Facts oder Behind the Scenes erwarten. Deshalb haben wir einige kleine Extras selbst produziert. So wird es ein 20-seitiges Booklet mit Texten von Clemens Williges und Lars Johansen geben, das Hörbuch "Gevatter Tod", den Beitrag "Joe May – Dichter an die Front", eine Bildergalerie und einen wunderbaren Audiokommentar mit den drei Kollegen, die hier ebenfalls interviewt werden.

Marco Koch: Der Audiokommentar mit den Kollegen hat auch wieder sehr viel Freude gemacht. Mittlerweile sind wir da ein super eingespieltes Team, und ich hoffe, man merkt uns den Spaß und den Enthusiasmus an, mit dem wir jedes Mal zu Werke gehen.

“Hilde Warren und der Tod” ist als erste Ausgabe der neuen ostalgica-Reihe "Stumme Filmkunstwerke" angekündigt. Können Sie uns schon den einen oder anderen weiteren Titel der Reihe verraten?

Andreas Bierschenk: In Kürze wird bereits der zweite Titel erscheinen: "Pest in Florenz", ebenfalls nach einem Drehbuch von Fritz Lang. Es folgen natürlich auch noch weitere interessante Filme, worüber ich aber derzeit noch nichts verraten möchte.

Marco Koch: Ich wage mal zu spoilern, dass auch "Pest in Florenz" wieder einen Beitrag von unserem bewährten Team enthalten wird ...

Wir danken Ihnen sehr für die interessanten Einblicke und wünschen der Blu-ray und den nachfolgenden Titeln einen großen Zuspruch!

Das Interview führte Frank Hoyer.
Bildnachweise: ostalgica
 

Linktipps:
Facebook ostalgica 
Wikipedia “Hilde Warren und der Tod”  
Wikipedia Fritz Lang 
Wikipedia Joe May  
Literaturtipp: Katalog zum cinefest 2018 "Meister des Weimarer Kinos – Joe May und das wandernde Bild" 
Literaturtipp: Biografie "Filmpionier und Mogul – Das Imperium des Joe May"

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