Stephan Graf von Bothmer über "Nosferatu" und das Stummfilmfestival im Berliner "Theater im Delphi"

Einer der populärsten Stummfilme ist 2022 hundert Jahre alt: "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens". Friedrich Wilhelm Murnaus Schauerfilm hatte am 04. März 1922 in Berlin seine Uraufführung.

Der große Klassiker des Weimarer Kinos ist nun Headliner des Stummfilmfestivals im Berliner "Theater im Delphi", das vom 18. bis 26. März 2022 stattfindet. Stummfilm Magazin sprach mit dem Stummfilmusiker Stephan Graf von Bothmer über die von ihm organisierten Stummfilmtage und seine Musik zu "Nosferatu":

Worin sehen Sie die ungebrochene Faszination und Popularität von "Nosferatu" begründet?

Es ist einfach ein guter Film. Wir haben ein Programmheft mit 24 Seiten geschrieben, um einige der Ebenen anzudeuten. Mich fasziniert der Vampir als natürliches Geschöpf Gottes, die sexuelle Konnotationen finde ich spannend, wobei Nosferatu ja irgendwie schüchtern ist, und natürlich ist es ein Nachkriegsthema, eine Art Heimkehrerfilm. Ich denke, viel vom Charisma des Filmes hängt an dem Umstand, dass uns der Film erzählt wird, persönlich, als Tagebuch. Dadurch sind wir ganz schnell in der Schauerromantik.

Wie werden Sie sich "Nosferatu" beim Stummfilmfestival musikalisch nähern

Wir haben eine recht aufwendige Besetzung mit dem Berliner Live-Filmmusic-Orchestra (LFO) und einem kleinem Chor. Das LFO besteht nur aus drei weiteren Musikern und Tontechnik, aber der Sound ist schon ziemlich fett und orchestral und gleichzeitig fein und flexibel, so können wir ganz dicht an den Film heran. Wir schlüpfen quasi in den Film hinein, sodass das Publikum "Nosferatu" von innen heraus erlebt.

Die Arbeitsweise des Chores ist für mich total naheliegend, aber alle sagen, sie hätten noch nie auf diese Weise Musik gemacht. Der eigentliche Kunstgriff ist hier mit Worten schwer beschreibbar, was sich aber sagen lässt ist, dass es Module gibt und ich flüstere dem Chor dann spontan zu, was sie singen sollen, beispielsweise "Modul M in drei Takten. Ich denke mir während der Show auch neue Module aus. Jeder hat einen Knopf im Ohr, sodass ich dem Chor die Ideen zuflüstern kann, ohne dass die Mikrophone das verstärken. Ich habe die Musik damals auf seine Essenz runtergebrochen: Das mit Abstand wichtigste ist, ob der Chor singt, oder nicht. Darin steckt mehr filmmusikalische Aussage, als beispielsweise in dem Umstand, ob der Chor eine besonders ausgefeilte Melodie anstimmt – also nicht einfach nur mehr filmmusikalische Aussage, sondern viel mehr Tiefe. Als nächstes kommt nicht etwa der Tonsatz – singt etwa der Bass eine gute Melodie? – , sondern schlicht: Singt der Chor in Dur, Moll oder Dissonanzen?

Ich habe mich bei "Nosferatu" so auf die Grundparameter der Musik und ihre filmmusikalische Wirkung konzentiert. Und das wird belohnt, denn mir scheint es, als ob Archetypen aufgeweckt werden, das Unterbewusste angesprochen wird. Genau darum geht es ja in "Nosferatu". Es denke, eine zu komplexe Musik führt eher dazu, dass sich die Archetypen verstecken. Thematisch benutzen wir minimale Motive, besonders die fallende kleine Sekunde und eine Harmonik, die einem den Boden unter den Füßen wegzieht. So drückt eine stabile Harmonik natürlich Stabilität aus, aber beispielsweise Terzverwandschaften sind unerwartet ... und schon droht man sich als Zuhörer*in in Film und Musik zu verlieren! Das macht ja John Williams genauso. Aus den minimalen Motiven und den Grundparametern weben wir aber sehr große, überraschend große Bögen und komplexe Texturen. Die Präzision auf der einen Seite ergibt Freiheit auf der anderen.

Welche Filme sind beim Stummfilmfestival noch zu sehen? 
 

Das StummfilmKonzerte-Festival gibt es ja seit 2004. Bei den Vorbereitungen für dieses Jahr hatten wir natürlich auch die aktuellen Nachrichten im Kopf, die uns alle sehr belasten. Um so mehr denke ich, dürfen und müssen wir mit Menschlichkeit, Kunst und Humor weitermachen. Und man braucht auch mal einen Rahmen, in dem man abschalten oder unbeschwert lachen kann.

Wir haben dieses Jahr drei Festivalschwerpunkte: Zum einen 'Nosferatu' mit insgesamt fünf über die Veranstaltungstage verteilten Aufführungen. Die zweite Sparte ist "Best Of Comedy" mit Buster Keatons "The General", einem neuen "Stan & Olli"-Programm – da ist ein superklasse Stan-Solo-Film dabei – und dem namensgebenden Programm "Best Of Comedy" mit Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Stan & Olli. Bei letzterer Vorführung treten die Komiker quasi als Slam gegeneinander an. Das Publikum wählt dann den "King Of Comedy". Es wurde übrigens schon mehrmals Charley Chase Sieger, der ist aber dieses Mal nicht am Start. Und dann gibt es zum Dritten immer den Schwerpunkt "Berlin", in diesem Jahr mit "Menschen am Sonntag" und "Der letzte Mann".

Aufgrund von verschiedenen Überlegungen haben wir in diesem Jahr nur große, herausragende, bekannte Filme, die fast zu Ikonen geworden sind. Mit dem Nachteil, dass für die Stummfilmprofis keine Entdeckung dabei ist. Das liegt daran, dass wir einfach zu wenig Vorbereitungszeit hatten und die Kosten gleichzeitig enorm sind.

Die Festival-Location, das "Theater im Delphi", scheint ja wie geschaffen zu sein für Stummfilmveranstaltungen ...

Ja, ich behaupte: Für das 100-Jahre-Nosferatu-Jubiläum gibt es keinen geeigneteren Ort. Der Saal aus dem Jahr 1929 wurde fast nicht restauriert. Er hat jahrzehntelang als Möbellager gedient – und so überlebt. Der Putz bröckelt noch von den Wänden. Dadurch hat die Location einen so morbiden Charme, der einfach unglaublich gut zu "Nosferatu" passt. Wir beziehen den Raum mit in die Show ein, es wird Spinnenweben geben und Nebel. Die Sporanistin Fanny Rennert singt als Succubus aus einem angedeuteten Bondagekäfig, um die sexuellen Konnotationen des Films anzudeuten. Aber alles ist so zurückhaltend inszeniert, dass es nicht den Film überlagert. Es ist da und es tut etwas mit einem, es kriecht in einen hinein.

Viele Zuschauer*innen sind bei den Stummfilmvorführungen gerade auch von dem punktgenauen Spiel der Musiker*innen beeindruckt - sie fragen sich: Wie bekommen die das hin?

Das weiß ich auch nicht. Ich vertone ja auch Fußballspiele, bei denen ich gar nicht wissen kann, was als nächstes passiert. Und dennoch bin ich oft so präzise auf den Ereignissen, dass der "Tagesspiegel" mal eine ganze Seite darüber geschrieben hat. Die Wirklichkeit scheint einem Drehbuch von Spannung, Endspannung und punktuellen Ereignissen zu folgen, das so in uns drin ist, dass wohl auch Filme sich danach richten. Mir als Musiker kommt die Stummfilmvertonung vor wie surfen: Wenn man auf der richtigen Welle reitet, ist es zwar anstrengend, aber nicht kompliziert. Zu Beginn meiner Arbeit als Stummfilmmusiker habe ich sehr viel nach- und mitgedacht, aber bemerkt, dass das Unbewusste viel präziser ist. Dann habe ich geübt, der Intuition die Leitung und ihren Raum zu geben. Das Bewusstsein muss daraus dann Melodien, Rhythmen und Harmonik konstruieren. Das hat also auch genug zu tun, aber eben nicht alles. Zudem habe ich schlicht viel geübt.

Können Sie uns einen Ausblick auf Ihre nächsten (Stumm-)Filmkonzerte und -projekte geben?

Nach dem Berliner Festival kommen unter anderem eine "Nosferatu"-Tournee und die Fußball-Konzerte zur Weltweisterschaft. Es bleibt also spannend!

Wir danken Ihnen für die interessanten Einblicke und wünschen für das kommende Stummfilmfestival gutes Gelingen.

Das Interview führte Frank Hoyer. 
Bildnachweis: Birgit Meixner

Linktipps: 
Festival-Trailer auf YouTube
Webseite Stephan Graf von Bothme
Facebook Stephan Graf von Bothmer 
Wikipedia "Nosferatu" 
Filmportal "Nosferatu"

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