Stephan Graf von Bothmer: Stummfilmfestival in Berlin

Vom 04. bis 18. März 2023 veranstaltet Stephan Graf von Bothmer ein Stummfilmfestival in der Zwölf-Apostel-Kirche im Berliner Ortsteil Schöneberg.

Stummfilm Magazin sprach mit dem international gefragten Musiker über die Konzertreihe und anstehende Projekte.

Das Stummfilmfestival startet ja mit einem außergewöhnlichen Event, bei dem auch Künstliche Intelligenz eine Rolle spielt …

Oh ja, und darauf freue ich mich ganz besonders. Es wird eine Ausstellung und ein Konzert mit Kunstwerken des KI-Künstlers Prinz Rupi geben. Ich vertone die projizierten Kunstwerke live an der Kirchenorgel. Prinz Rupi ist im Moment mega angesagt. Er war der erste, der KI-Kunst ausstellte, internationale Museen geben großformatige Werke bei ihm in Auftrag und er hat mit seiner KI das erste Buch geschrieben. Es war nach einer Woche vergriffen.

Ich finde Künstliche Intelligenz extrem faszinierend und beschäftige mich seit den 80ern damit. Man muss verstehen, dass es sich bei einer KI nicht um eine Programm handelt, wie wir es kennen. Auch nicht um ein lernendes Programm. Es ist etwas völlig anderes: Es ist das Experiment auszuprobieren, was passiert, wenn man eine große Anzahl von Neuronen, die ähnlich funktionieren die die Neuronen in unserem Gehirn, ähnlich vernetzt wie unsere Neuronen. Fängt dieses künstliche Gehirn an zu denken? Entwickelt es ein Bewusstsein? Meine Antwort ist: Ja! Deshalb ist das Thema für alle so faszinierend und gleichzeitig so angstbesetzt. Und deshalb heißt mein Programm auch "Zwischen Faszination und Angst". Wir erleben gerade einen Wendepunkt. Es wird sich alles verändern, und es wird positive Entwicklungen geben und extrem negative. Nichts, was der Mensch erfindet, ist nur gut oder nur schlecht. Es ist genauso ambivalent, wie der Mensch selbst. Und ambivalent ist eben auch die Kirchenorgel, mit der ich die KI-Kunstwerke vertone: Ich kann die Posaunen der Hölle loslassen, aber auch in himmlische Sphären aufsteigen. Sogar gleichzeitig. Oder ich kann mit rhythmischen Loops die Triebe ansprechen. Das macht es so spannend.

Welche weiteren Programmpunkte sind beim Stummfilmfestival noch zu erleben?

Highlight ist natürlich "Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" mit Chor, Kirchenorgel und dem Berliner Live-Filmmusic-Orchestra. Das ist mein Ensemble, wir spielen oft zusammen und interpretieren Stummfilme, in diesem Fall sind es vier Musiker: Sopran, E-Cello, Perkussion und ich an der Orgel. Zu "Nosferatu" funktioniert das sehr gut. Die Ur-Weiblichkeit im Sopran beispielsweise. Dann interpretiere ich "Die weisse Sklavin" aus dem Jahr 1911. Der dänische Film gilt als Franz Kafkas Lieblingsfilm. Ich bezweifle das mit dem "Lieblings-" etwas, aber es ist sicher, dass ihn den Film tief bewegt hat und dass er sogar sein Schreiben beeinflusst hat. Es geht um Verbrechen, Verfolgungsjagd, Bordell und Mädchenhandel. Der Erfolg an der Kinokasse war beispiellos. Greta Garbos"The Mysterious Lady" von 1928 ist im Programm, mit einer der schönsten Liebesszenen aller Zeiten und einer Wendung, so grotesk und stark, dass sich allein dafür der ganze Film lohnt. Wir rufen die tobenden 20er-Jahre mit "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt" heraus. Und schließlich zeige ich mein "Stan & Olli - Teil 3", das ist, aus Berliner Sicht, ein "neues Programm". Darin enthalten ist "From Soup To Nuts" mit dem besten Wortwitz aller Zeiten; bezeichnend: ausgerechnet in einem Stummfilm! Mit dabei ist auch ein Stan-Laurel-Solofilm, also ohne Olli. Bei diesen Filmen macht mir die Musik auch besonders Spaß. Ich höre ja, wie oft das Publikum laut lacht. Und dann probiere ich beim nächsten Konzert mit der Musik einiges anderes aus. Lacht das Publikum mehr oder weniger? So entwickle ich die Musik immer weiter und erzeuge immer mehr Lacher. Das ist wie ein Trip. Jemand sagte einmal nach dem Konzert: "Sie sind ja ein Heiler.“ "Wieso“, fragte ich. "Weil Lachen doch so gesund ist.“

Wie erklären Sie sich die anhaltende Faszination an Murnaus "Nosferatu“?

Für mich ist vor allem wichtig, warum mich persönlich dieser Film immer noch packt, auch nach über 350 Konzerten, weltweit durchgeführt von den Philippinen bis Kolumbien! Für mich geht es in "Nosferatu" um Archetypen, die ich versuche lebendig werden zu lassen. Es geht um die Frage, was passiert, wenn Du vor Teilen deiner eigenen Seele Angst hast. Ich beziehe so etwas sehr intensiv auf mich und gehe bei den Konzerten oft durch die seelische Hölle. Aber nur wenn ich mich da wirklich reinbegebe, dann traut das Publikum sich das auch. Und hat einen mitunter erschütternden Abend. Erschütternd, weil sie in Bereiche ihrer Seele gegangen sind, in die man nicht so oft geht. Wie kommt es, dass dem einem ein Film gefällt und der selbe Film einem anderen nicht gefällt? Oft liegt es weniger an den unterschiedlichen Persönlichkeiten, sondern viel mehr daran, wie sehr man sich auf den Film eingelassen hat. Wie sehr der Film einen mitnehmen durfte. Und das wiederum hängt bei einem Stummfilm oft mit der Musik zusammen.

Hat die Location, hier das besondere Ambiente einer Kirche, auch einen Einfluss auf Ihre musikalische Interpretation der Filme?

Auf jeden Fall! Darum geht es ja! Sonst könnte ich die Filme ja auch woanderes spielen. Für mich geht es in Kirchen in erster Linie nicht um das Gute. Als Kind habe ich oft gefragt, warum an vielen Kirchen und Kathedralen Dämonen aus Stein zu sehen sind. Antworten wie "die sollen böse Dämonen vertreiben“ befriedigten mich nicht. Ich gehe durch die Welt, komme an einer Kathedrale vorbei und sehe fies aussehende Dämonen. An was denke ich? An Dämonen. Die haben sie nicht vertrieben, sondern gerufen! Warum rufen Kirchen Dämonen herbei? Die Mystik ist jedenfalls deutlich tiefer, als nur das, was viele mit Kirche verbinden: Reden über gute Dinge.

Können Sie uns einen Ausblick auf Ihre nächsten Filmkonzerte und -projekte geben?

Nach dem Festival steht am 01. April 2023 eine außergewöhnliche Astronomie-Veranstaltung in der Archenhold-Sternwarte Berlin an. Wir haben im Archiv historische Filme, die mit dem Riesenteleskop aufgenommen wurden, gefunden und digitalisieren lassen. Diese zählen zu den ältesten Mond-Filmaufnahmen überhaupt. Mit dabei ist die erste, jemals gemachte Filmaufnahme einer Mondfinsternis aus dem Jahr 1931, die ersten Farbfilmaufnahmen des Mondes weltweit und sogenannte Mondspaziergänge. Das sind Schwenks des Riesenteleskops, sodass die Aufnahme über die Mondoberfläche gleitet. Zudem sehen wir das große Interesse und den aus heutiger Sicht fast unvorstellbaren Andrang des Publikums. Für mich war das alles unglaublich spannend, und wir sind auch noch lange nicht fertig mit dem Kuratieren. Die Aufnahmen sind im Prinzip Rohmaterial. Wir werden eigene, erklärende Zwischentitel in der Manier der damaligen Zeit schreiben und einfügen.

Im April fahre ich dann auch auf eine schöne, intensive Niederlande-Tournee: dreizehn Konzerte an vierzehn Tagen. So was macht richtig Spaß! Ich spiele mein "Stan & Olli"-Programm. Mit dabei sind auch zwei Shows mit historischen Fotografien oder Filmen, die ich vertone: ein Programm über Boskoop und eins über Waddinxven.

In den Niederlanden habe ich übrigens bei meiner letzten Tournee einen Musikinstrumentesammler kennengelernt, der mich gefragt hat, ob ich bei Ihm mit Freunden Pizza essen wollte, dabei könnte ich mir seine Orgeln anschauen. Ich war erschöpft vom Auftritt, war aber auch neugierig. Es wurde die abgefahrenste Nacht seit Jahren! John hat, ich weiß nicht, vielleicht zehn Hammond-Orgeln verschiedener Baureihen, dazu unzählige Leslies. Dann vielleicht zwanzig Yamaha-Orgeln aus allen Jahrzehnten. Und drei elektronische Kinoorgeln. Räume voller Orgeln und dazugehörigem Zeug. Es war unglaublich. Ein ganzes Orgelmuseum! Am Ende habe ich dort, zwischen den Orgeln, gepennt.

Das hört sich geradezu filmreif an! Wir danken Ihnen für die interessanten Einblicke und wünschen dem anstehenden Stummfilmfestival in Berlin viel Erfolg!

Das Interview führte Frank Hoyer.
Bildnachweis: Birgit Meixner

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