Richard Siedhoff über seine Neukomposition zu "Der letzte Mann"

Friedrich Wilhelm Murnaus Drama Der letzte Mann (D 1924) zählt zu den großen Klassikern des Weimarer Kinos. Am 11. November 2018 wird beim Film+Musik-Fest Bielefeld eine Neukomposition zum Film von Richard Siedhoff uraufgeführt, gespielt vom Metropolis Orchester Berlin. Bereits am 05. November 2018 gibt es eine Voraufführung im Berliner Babylon Kino.

Siedhoff gehört derzeit zu den profiliertesten und meistbeschäftigten Stummfilmmusikern im deutschsprachigen Raum. So ist er regelmäßig bei großen Stummfilmtagen und auf DVD-Produktionen zu hören. Stummfilm Magazin sprach mit dem Komponisten über seine Arbeit und die kommende Premiere.

Nach Der Gang in die Nacht (D 1921) widmen Sie sich innerhalb kurzer Zeit einem zweiten bedeutenden Werk von Murnau. Wie kam es dazu?

Im Jahr 2017 war „Der Gang in die Nacht“ meine erste für ein größeres Ensemble durchkomponierte Stummfilmmusik. Ich fing die Musik damals für ein kleines Ensemble an, traf dann Burkhard Goetze, der gerade sein Metropolis Orchester Berlin gegründet hatte, und er überzeugte mich, die Musik für sein Orchester zu erweitern. Dank seine Initiative konnten wir davon auch gleich eine DVD-Einspielung realisieren. Dann kam 2018 die Anfrage, ob ich nicht die Originalmusik von Giuseppe Becce zu „Der Letzte Mann“ einrichten könnte. Immerhin ist dieses Jahr Murnaus 130. Geburtstag. Allerdings ist Becces Musik zu einem Viertel gar nicht durchkomponiert, sondern mit Fremdwerken „aufgefüllt“. Das entsprach der damals üblichen Praxis: Die Kapellmeister der Kinoorchester kompilierten aus zahlreichen nach Szenentypen katalogisierten Musikstücken wöchentlich die Begleitmusiken für die Filmprogramme. Nur für wichtige Filme wurde komponiert und wenn die Zeit knapp war, flossen eben Fremdwerke mit ein. Becces „Letzter Mann“ hat nur als Klavierdirektion mit 1. Violinen-Stimme überlebt, mit zahlreichen Verweisen auf eben jene Fremdwerke. Detlev Glanert hat daraus bereits 2003 die Musik für großes Orchester bravourös rekonstruiert. Warum sollte ich die Arbeit also nochmal wiederholen? Und da die Rechtslage bei Becce auch gar nicht so einfach ist, entschloss ich mich, meine eigene Musik zu komponieren.

Gibt es für Sie einen speziellen Murnau-Sound?

Murnau war sehr musikalisch, dass merkt man auch am Rhythmus seiner Filme. Aber einen direkten Murnau-Sound gibt es nicht, auch nicht bei mir. Wohl aber einen Siedhoff-Sound (lacht). Und der klingt schon sehr nach 1920er-Jahre, glaube ich. Mein „Letzter Mann“ ist quasi spätromantisch gehalten, mit ein wenig Moderne, Impressionismus und einem Hauch Caféhaus-Musik.

Wie entsteht die musikalische Idee zu einem Stummfilm? Was inspiriert Sie?

Der Film natürlich. Egal, ob ich improvisiere oder komponiere, der Film gibt mir alles vor: Rhythmus, Emotion, Spannungsbögen, Klangfarbe. Die Kunst ist es nur, das alles aus dem Film herauszulesen. Jeder Stummfilmmusiker hat seine eigenen Techniken und Interpretationsansätze und man kann die Anforderungen des Films auf mannigfaltige Weise umsetzen. Nur sollte die Musik ihm dienen.

Wie wichtig sind für Sie Leitmotive bei der Vertonung von Stummfilmen?

Das ist sehr unterschiedlich. Generell bin ich ein ausgesprochener Vertreter der Leitmotiv-Technik, aber manche Filme brauchen es mehr, manche gar nicht. Ein guter Spielfilm kann Leitmotive sehr gut vertragen. Nicht nur, indem ein Motiv X immer beim Auftritt von Person X auftaucht, sondern auch, indem es an ganz anderen Stellen vorkommt und dem Film einen Subtext zuordnet. Beispielsweise kann Motiv X in einer tragischen, langsamen Variation auftreten, wenn eine andere Person an Person X denkt, was im Film aber gar nicht klar zum Ausdruck kommt. Beim Komponieren geht die Verarbeitung und Verschachtelung der Motive und Themen natürlich noch viel besser als beim Improvisieren, wo ich auch immer meine Leitmotive für jeden Film mitbringe. Zum Beispiel habe ich im „Letzten Mann“ ein Motiv für das prunkvolle Hotel. Dementsprechend ist es farbenprächtig und voller Bewegung. Im Laufe des Films wird es aber düsterer und macht aus dem Hotel einen Moloch, in dem das wilde Leben zum Strudel wird, so wie die weite Chaussee im Film wird zum dampfenden, dreckigen Straßen-Chaos mutiert. An anderen Stellen komm es etwas jazzig daher. In einer Komposition hab ich logischerweise viel mehr Zeit, Motive auf dem Papier zu entwickeln, zu verarbeiten, zu variieren. Dabei kann ich dem Film meine eigene Interpretation überstülpen und dem Publikum eine Sichtweise vorgeben, die es mit anderer Musik vielleicht gar nicht gehabt hätte. Als Musiker hat man unglaubliche Macht. Das kann auch gefährlich sein: Eine schlechte oder unpassende Musik kann einen guten Film richtig kaputt machen.

Stummfilmvertonungen reichen heute von möglichst werkgetreuen Wiedergaben, wie etwa die Originalmusik von Gottfried Huppertz zu Metropolis, bis zu Jazz-Sessions und DJ-Events. Wofür schlägt Ihr Herz?

Generell verehre ich die Originalmusiken, auch aktuelle „klassische“ Kompositionen. Sie haben ein unübertroffenes Niveau, dass man in der heutigen Filmmusik schon nicht mehr so findet und was zum Beispiel ein DJ nicht erreichen kann. Das liegt ganz einfach daran, dass Stummfilmmusik oftmals Konzertmusik ist und die damaligen Komponisten von der Oper, der Sinfonie und der Schauspielmusik kamen. Aber auch moderne Musik kann gut und passend sein. Wichtig ist, dass sie dem Film dient und nicht – wie ich es immer formuliere – den Film zur Projektionsfläche neuer Musik degradiert. Dann kann die Musik zwar gut sein, dem Film aber nicht gerecht werden. Und warum ein Kunstwerk zerstören?

Wird die Komposition zu "Der letzte Mann" auch veröffentlicht, etwa auf DVD?

Wahrscheinlich nicht. Es gibt ja seit Jahren die integrale Fassung mit der rekonstruierten Becce-Musik. Meine Komposition wird vorläufig nur live erlebbar sein. Dafür wird meine Musik zu „Der Gang in die Nacht“ am 01. Dezember 2018 im Zeughauskino Berlin uraufgeführt und bis dahin sollte dann auch die dazugehörige DVD in der Edition Filmmuseum erschienen sein, zusammen mit einer kleinen Doku über die Musikproduktion und die Filmrekonstruktion.

Nach dem Film ist vor dem Film. Was sind Ihre nächsten Projekte?

Tatsächlich geht es nächstes Jahr voraussichtlich mit der Frau im Mond (D 1929) von Fritz Lang in die nächste Runde. Zum 50. Jubiläum der Mondlandung und zum 90. Geburtstag des Films will das Metropolis Orchester Berlin den Film wieder auf die Leinwand bringen. Darüber hinaus rekonstruiere ich gerade eine andere Originalmusik von 1920, die bis jetzt als verschollen galt und von der noch die Rede sein wird.

Da sind wir schon sehr gespannt und freuen uns auf baldige Infos dazu. Herzlichen Dank für das inspirierende Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei der musikalischen Veredelung von Stummfilmen.

Linktipp: Mehr über Richard Siedhoff und seine Aufführungstermine unter www.richard-siedhoff.de

Das Interview führte Frank Hoyer.
Bildnachweis: privat
 

Zurück