Neue Musik für den "Müden Tod": Interview mit Vlady Bystrov

Der Musiker und Komponist Vlady Bystrov widmet sich seit 15 Jahren der Stummfilmmusik und hat schon zu Klassikern wie "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" (D 1926"), "Das Cabinet des Dr. Caligari" (D 1920) und "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" (D 1922) musikalisch gearbeitet.

Nun hat er sich Fritz Langs "Der müde Tod" (D 1921) angenommen. Stummfilm Magazin sprach mit Vlady Bystrov über seine Musik zum Film:

Wie entstehen Ihre musikalischen Ideen zu einem Stummfilm?

Ich arbeite nach zwei klassischen Methoden: Die eine besteht darin, dass ich zunächst den Film komplett mit Papier und Bleistift in der Hand ansehe und zeitlich in die musikalisch relevanten Szenen einteile. Danach überlege ich mir, welche Personen oder Momente die entsprechende Musik oder Instrumentierung, eine bestimmte Stimmung brauchen, ob ich meinerseits was unterstreichen möchte oder gegen spiele. Ich betrachte den ganzen Film als eine interessante Vorlage für meine eigenen Ideen. Da Stummfilme kein Filmkomponistenauftrag sind, gibt es keinen Regisseur, der vorgibt, was er haben will. Es steht mir alles frei, und das mag ich.

Die zweite Variante ist improvisatorisch: Ich lasse den Film ablaufen, spiele einfach frei dazu und zeichne parallel mein Spiel auf. Danach höre ich es an, ergänze und entwickle es weiter: Es kommen andere Instrumente dazu oder es wird etwas neu aufgenommen, falls die neuen Ideen plötzlich eine andere Richtung einnehmen. Dazu gibt es eine kleine Anekdote: Vor einigen Monaten bekamen mein Kollege Sergey Letov aus Moskau und ich einen Auftrag vom Goethe Institut Moskau für eine Musik zu Murnaus "Schloss Vogelöd". Der Kollege war in Moskau und ich in Deutschland. Ich habe als Grundlage zwei komplett unterschiedliche Klavierimprovisationen eingespielt: eine auf dem Midi-Klavier, die andere auf meinem präparierten Flügel. Danach wurden die Spuren parallel angelegt, die interessantesten Momente gelassen und anschließend Flöten und Klarinetten im klassischen Leitmotivverfahren dazu aufgenommen. Da wir jeder das Klavier-Playback hatten, nahmen wir unser Spiel an einigen Stellen sogar als Duett auf. Wir haben uns dabei einfach per WhatsApp-Video live gehört. Anschliessend brauchte die so entstandene Musik nur noch einige minimale Korrekturen. Das hat sehr viel Spaß gemacht.

Wie haben Sie sich speziell dem "müden Tod" angenähert? Der Film besteht ja aus drei atmosphärisch und stillistisch unterschiedlichen Episoden, die durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten werden.

Zum Film hatte ich eine sehr spezielle Idee: Er sollte an drei aufeinanderfolgenden Tagen aufgeführt werden. An jedem Tag wäre nur der Anfang und jeweils eine Episode gezeigt und musikalische bgleitet worden. Am letzten Tag wäre dann die letzte Episode und das Ende an der Reihe. Zu jeder der Aufführungen wollte ich Musiker einladen, die unterschiedliche Musik spielen, passend zur Episode wie italienische Barockmusik oder Musik mit chinesischen Flöten. Ich habe eine grosse Sammlung ethnischer Instrumente, die ich gerne bei meinen Projekten einsetze. Aus organisatorischen Gründen müssen wir "Den müden Tod" nun an einem Abend begleiten, jetzt werden alle Musiker auf einmal eingeladen und wir spielen zum Film improvisatorisch.

Stummfilme mit Livemusik haben in den letzten Jahrzehnten ein bemerkenswertes Revival erlebt. Was fasziniert Sie selbst am frühen Film und dessen akustischer Ausgestaltung?

Für mich besteht der Reiz gerade in der improvisatorischer Annäherung an den Film. Dabei entscheide ich spontan, wie ich den Film begleite, ob es sogenanntes Micky-Mousing-Spiel sein soll oder ob kleine musikalische Botschaften, bestehend aus Zitaten oder Anspielungen aus Musikgeschichte, darin vorkommen sollen. Das ist dann manchmal wie ein Rätsel für die Zuschauer*innen, wenn sie die Musik erkennen. Solche spielerischen Aspekte machen mir Spaß. Beim Filmerbe mag ich besonders außergewöhnliche, meistens avantgardistische Filme, je abstrakter, desto besser. Da ich überwiegend im experimentellen Bereich arbeite, ist mein Instrumentarium entsprechend eher ungewöhnlich, genauso wie die von mit eingeladenen Musiker*innen.

Spannend! Können Sie uns das näher schildern?

Ich benutze gerne elektronische Instrumente, die ich mit ethnischen Instrumenten mische. Es klingt einfach schön, wenn man zu präpariertem Klavier eine Suling Flöte oder, beispielsweise bei einer romantischen Szene, eine chinesische Hulusi erklingen lässt. Und was die Musiker*innen betrifft: Vor ein Paar Jahren haben wir zum Beispiel zusammen mit einem Professor für Elektronik aus Royal Music Academy aus Glasgow und dem legendären Stimmkünstler Phil Minton "Nosferatu" vertont. Die Aufnahme wartet jetzt auf die Veröffentlichung..

Wann und wo ist "Der müde Tod" mit Ihrer Musik live zu erleben?

Am 11. Juni 2022 in der Magni-Kirche in Braunschweig werden wir mit einem Quartett in der Besetzung Klavier, Geige, Percussion und Blasinstrumente, ergänzt um Live-Elektronik, den "Müden Tod" lebendig werden lassen. Vor der Aufführung wird der Kinoexperte Clemens G. Williges, Chefredaktuer von "35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin" und Vorstandsmitglied und Programmer beim "Internationalen Filmfestival Braunschweig", eine Einführung in den Film geben.

Die Filmmusik ist nur ein Zweig Ihres künsterlischen Schaffens. Welche weiteren Projekte stehen bei Ihnen in nächster Zeit an?

Das nächste große Projekt ist "Drei Tage Neue Musik Braunschweig", ein Festival, das wir mit unserem Verein "Freunde der Neuen Musik", dessen Erster Vorsitzender ich bin, Ende September 2022 veranstalten werden. Auf der Internetseite www.neue-musik-bs.de kann man mehr über unsere Aktivitäten und das Programm des Festivals erfahren. Und über das, was ich mache, gibt es Infos unter www.bystrov.de.

Wir danken Ihnen für die spannenden Einblicke und wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihren kommenden Aufführungen.
Das Interview führte Frank Hoyer
Bildnachweis: privat
 

Linktipps
Internetseite Vlady Bystrov 
Facebook Vlady Bystrov 
Wikipedia "Der müde Tod" 
Filmportal "Der müde Tod" 
Würdigung von "Der müde Tod" im Rahmen der Stummfilm-Magazin-Initiative "100 Jahre Stummfilm-Klassiker der Weimarer Republik"

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