Musikaufnahmen zu "Casanova": Interview mit Stummfilmmusiker Günter A. Buchwald

Mitte Januar 2021 wurde im Teatro Verdi in Pordenone die Musik von Günter A. Buchwald für den französischen Stummfilm "Casanova" (F 1927) mit dem Orchestra San Marco unter Leitung des Komponisten eingespielt. Stummfilm Magazin sprach mit Günter A. Buchwald über die Aufnahmen, seine Komposition und die Stummfilmszene.

Zu welchem Zweck wurden die Musikaufnahmen gemacht?

Es wird demnächst eine DVD mit dem restaurierten "Casanova" erscheinen. Die Cinémathèque Française hat diese Filmfassung 2016 fertiggestellt und nach Abschluss meiner Komposition steht nun die Veröffentlichung an. Es gibt aber auch einen konkreten Anlaß: Das Stummfilmfestival Giornate del Cinema Muto in Pordenone feiert in diesem Jahr sein 40. Jubiläum. Was läge da näher als diesen großartigen und opulenten Ausstattungsfilm zu präsentieren? Der Film wird als Abschlussevent dort gezeigt.

Wie muss man sich die Musikaufnahmen, an denen 52 Musiker*innen beteiligt waren, in Pandemiezeiten vorstellen?

Musikaufnahmen unter Coronabedingungen sind äußerst schwierig. Social distancing bedeutete im konkreten Fall, dass bei den Streicher*innen jeder Einzelne an seinem eigenen Pult saß. Die Schlagzeugsektion war dreißig Meter vom meinem Dirigierpult entfernt. Pausen waren in kürzeren Abständen einzuhalten fürs Lüften, eine längere Pause war recht früh anzusetzen, da die Restaurants für das Catering ab 18:00 Uhr schliessen mussten. Es ging also bis spät in die Nacht, was Probleme mit der physischen Kraft und Konzentration mit sich brachte.

Last but not least: Die Masken sind zwar unbedingt zu tragen, aber wer dächte, dass damit auch das Ohr, und damit das Gehör, in Mitleidenschaft gezogen wird? Einen Vorteil hatte es dennoch: Für den finalen Mix sind die einzelnen Tonspuren gut voneinander getrennt und leichter zu mischen. Dass wir die 160 Minuten an zwei Tagen im Kasten hatten, grenzt an ein kleines Wunder – und spricht andererseits für die Musiker*innen des Orchesters.

Wie entstehen Ihre musikalischen Ideen zu einem Stummfilm? Was inspiriert Sie?

Musikalische Ideen für die Vertonung eines Stummfilms, sei es improvisatorisch, sei es kompositorisch, kommen in der Regel – bei mir jedenfalls – aus dem Film heraus. Eigentlich muss es für den Zuhörer egal sein, ob die Musik improvisiert oder komponiert ist. Sie muss so oder so "zum Film passen". Für mich als Komponisten ist es natürlich eine größere Herausforderung. Da muss noch mehr stimmen. Beim Improvisieren prima vista stellen sich andere Anforderungen, und ich nehme die Gelegenheit einer neuen Filmvorführung gerne an, um an meiner Musik zu feilen.

Übrigens: Die Lektüre und das Studium Zofia Lissas "Ästhetik der Filmmusik" von 1965 war der beste Einstieg in die Thematik und hilfreich für meine eigene Examensarbeit mit dem Thema "Semiotik der Stummfilmmusik an Hand der Kinothek von Giuseppe Becce" im Jahr 1980. Es gibt quasi einen ganzen Katalog von Kriterien für die Musik: die historische Zeit der Filmhandlung bis hin zur Tageszeit, die Location, der dargestellte Raum, das Genre des Films – von der düsteren Tragödie bis zum Slapstick. Und die handelnden Person sind Träger von Emotionen, sie agieren in ihrer Weise aus diesen heraus, kein Film ohne Konflikt. Kurz gesagt: Für mich ist ein Film schon immer per se eine Inspiration für Musik gewesen, quasi meine Partitur. Ich reagiere auf ihn mit meinen eigenen Emotionen, aber inzwischen auch mit sehr viel Wissen. Beides zählt also für mich bei der Filmmusik: Gefühl und Verstand.

Bei Casanova ist die Faktoren relativ schnell aufzuzählen: Die Lokalitäten Venedig, Österreich und Sankt Petersburg haben jeweils eine eigene lokale Farbe. Der üppige Kostümfilm mit seinen sensationellen Farbsequenzen braucht eine üppige Klangfarbenbreite der Instrumentierung. Die historische Zeit um 1780 findet in meiner Stilauswahl ihre Entsprechung. Beispielsweise gibt es kein Klavier, sondern ein Cembalo. Die in der Handlungen spielenden Musiker bekommen ihr Instrument. Die Mandoline ist dabei. Nur eine spielt, aber auf der Palastempore spielt ein ganzes Mandolinenorchester. Der Dirigent des Kammerorchesters im Zarenreich war die größte Herausforderung, denn der Schnitt seiner Dirigierbewegungen im getanzten Menuett stimmt nicht. Ich musste – und wollte – einen Tanz schreiben, der zwar einen Dreivierteltakt hat, aber doch gelegentlich einen Viervierteltakt so einfügt, dass man dies eigentlich nicht bemerkt, jedoch mit dem Takt gebenden Dirigenten übereinstimmt. Ich wollte jedoch auch nicht "historisch" bleiben, sondern auch dem fast geisteskranken Zaren Peter III. eine modernere atonale, zumindest dissonante musikalische Charakterisierung geben.

Ferner durfte die Musik nicht "mickymousing" machen. Bei der überschäumenden schauspielerischen Präsenz von Ivan Mosjoukine wäre ich nicht mehr aus dieser Mühle gekommen. Dann würde alles zu pointilistisch werden. Die Musik muss hier quasi alles zusammenhalten. Und bei aller Problematik mit dem Macho Casanova im Zentrum des Geschehens: Es ist letztlich eine Komödie. Wenn Casanova der Reihe nach seine weiblichen Eroberungen wieder fallen läßt, sind seine Eroberungen kraftvoll, Herz erweichend und emotional, seine Fluchten gewagte Actionsszenen. Letztlich befreit er die Damen immer aus den Händen eines männlichen Scheusals, Ehegatten oder Vergewaltigers. Im Übrigen war der reale Casanova auch ein exzellenter Musiker!

Was liegt Ihnen musikalisch näher: ein großer Ausstattungsfilm wie "Casanova", der immerhin drei Stunden dauert, oder mehr das Kammerspiel, wo die kleine Geste große Wirkung haben kann?

Unterschätzen Sie nicht die kleinen Details in diesem großen Ausstattungsfilm! Es zählt manchmal nur ein winziger Wimpernschlag in einer Großaufnahme. Musikalisch habe ich hier keine Präferenzen, weil jeder Film unabhängig vom Genre seine spezielle Herausforderung für die Vertonung hat. Da bin ich stets ein "eternal student". Ich bin mir aber sicher, dass ich vor zwanzig Jahren noch nicht reif für einen solchen Koloss wie "Casanova" war. Auch für meine Komposition zu Murnaus "Nosferatu" im Jahr 2015 habe ich mir quasi zwanzig Jahre Zeit gelassen. Dafür wußte ich aber recht schnell, was und wie ich es haben wollte und zu meiner eigenen Überraschung war ich circa drei Monate vor meiner eigenen Deadline fertig. An "Casanova" saß ich ungefähr drei Jahre. Die musikalischen Ideen sind zwar alle in den ersten fünf Minuten des Films entwickelt, aber die Ausarbeitung der Themen mit verschiedenen Klangfarben, Variationen und stilistischem Ausformungen von Barock bis Hollywood brauchte das.

Neben Joachim Bärenz sind Sie Deutschland dienstältester Stummfilmmusiker und können ungefähr 50 Jahre Stummfilmkultur in Deutschland überblicken. Wie hat sich während Ihrer bisherigen Schaffensphase die Aufführungskultur und die Stummfilmszene verändert? Können Sie uns etwas über Ihre Erste Stummfilmvertonung vor Publikum erzählen?

Jochen Bärenz lernte ich 1979 in Berlin auf einem Symposium zum Thema Stummfilm kennen. Da hatte ich bereits 1978 meine ersten eigenen improvisatorischen Erfahrungen und war mir bereits sicher, dass dies mein zukünftiges musikalische Wirkungsfeld ist. Ein Bekannter sprach kürzlich vom "Ghetto der Stummfilmmusik". Ich halte dagegen, dass jener keine Ahnung davon hat, wie groß und vielfältig, zugleich musikalisch inspirierend und voller kompositorischer Freiheit – allerdings auch Verantwortung – dieses "Ghetto" ist.

Gab es in den 1970ern knapp eine Handvoll mir bekannter Stummfilmpianisten, so ist dies heute schon unüberschaubar. Gab es am Anfang der Stummfilmrenaissance zwei oder drei Aufführungen monatlich, so kann man heute sicher sein, dass rund um den Globus ein oder zwei oder gar mehr Filmkonzerte täglich auf dem Programm stehen. Inzwischen werden weltweit etablierte und jährlich stattfindende Festivals zwischen Berlin, Bonn, Pordenone, San Francisco und Kyoto durchgeführt, um nur einige zu nennen.

Mit dieser Vielfalt geht ein Reichtum einher an verschiedenen Musikstilen von "traditional" bis zeitgenössisch Avantgardistischem, vom Solovortrag bis zum großen Orchester. Aber auch vom erfahrenen Profi zum laienhaften Einwegprobierer. Nun, ich war selbst einmal Anfänger: Den "Glöckner von Notre Dame" vertonte ich innerhalb einer Woche, das heißt von der Entscheidung, niemanden anderen dafür gefunden zu haben als mich – als ein „mal Wagender“ –, über das einmal Anschauen des Films bis zum improvisierten Auftritt im Theatercafé der Städtischen Bühnen Freiburgs. Der Film lag auf 6 Super-8-Rollen vor. Ein Kollege begleitete die Rollen 1,3,5 und ich die Rollen 2,4,6.

Für den darauffolgenden Film in vier Wochen, den "Black Pirat" mit Douglas Fairbanks sen., sprang der andere ab, weil es nicht seine Sache sei. Ich aber – siehe oben – hatte Feuer gefangen und machte weiter. Die Musik, die ich mir für den Film ausgesucht hatte - vom "Dies Irae" für das historische Paris, über den "Irish Tune" für Esmeralda und das Bartok’sche "Allegro Barbaro" für den Schlußkampf – spielte ich alles in improvisatorischer Eigendeutung ... Ich könnte die Musik heute immer noch so spielen, ebenso wie ich den Film in seinen kleinsten Details kenne.

Was sind Ihre nächsten Projekte? Gibt es – trotz Ihres enormen Repertoires – einen Stummfilm, den Sie noch nicht musikalisch begleitet haben, aber gerne in Angriff nehmen würden?

Da ich inzwischen Dirigent des "Octuor de France" bin, werde ich deren Repertoire mir aneignen und auch dafür komponieren oder arrangieren. Für ein Freiburger Studentenorchester werde ich für den Sommer 2021 eine Musik für einen Film zum Thema "Ins Weite" schreiben. Reizen würde mich eine Lubitsch-Komödie aus seiner Hollywoodzeit oder wieder mal ein Film aus Japan, jedenfalls einer, der eine avantgardistische Musik verträgt. Auch DJ Spooky aus Los Angeles hat mich gerade für ein neues Projekt angefragt. Wir haben schon Oscar Micheauxs "Body & Soul" zusammen "gespielt".

Aber ansonsten ist momentan viel verschiedene Musik hören und Klavier üben, üben üben angesagt. Das heißt: Neues beim Klavierspielen entdecken, was noch nicht in meinen Fingern ist. Es ist der Kopf, der die Musik macht und nicht die Finger, die Eingeschliffenes abliefern. Und natürlich möchte ich den "Casanova" als Filmkonzert noch in viele Konzertsäle tragen und mit verschiedenen Orchestern einstudieren. Naheliegend Venedig, Sankt Petersburg und Wien, die Schauplätze des Films. Aber jetzt fürs Erste steht der Film in Pordenone als Abschlussabend des Giornate del Cinema Muto und eine Woche darauf in Lyon mit dem dortigen Orchestre National auf dem Programm.

Wir danken Ihnen sehr für die spannenden Einblicke und wünschen Ihnen weiterhin gutes Gelingen! 
Das Interview führte Frank Hoyer
Bildnachweise: Klaus Polkowski

Linktipps
Günter A. Buchwald 
Octuor de France
Le Giornate del cinema muto 
"Casanova" bei Wikipedia 
"Casanova" bei IMDB

Zurück