Frische Musik für den "müden Tod": Im Gespräch mit Richard Siedhoff

Der Stummfilmmusiker Richard Siedhoff, Träger des Deutschen Stummfilmpreises 2020, erstellte während des Lockdowns im Winter 2020/21 eine Neukomposition für Fritz Langs "Der müde Tod".

Der Klassiker des Weimarer Kinos kam 1921, vor nun genau hundert Jahren, in die Kinos. Stummfilm Magazin sprach mit dem Komponisten über den Film und seine neue Musik dafür.

Was lässt sich über die Uraufführungsmusik von "Der müde Tod", die als verschollen gilt, heute sagen?

Ich weiß nicht viel über die Musik von Giuseppe Becce, die 1921 zum Film gespielt wurde. Wahrscheinlich wird er viel kompiliert, vielleicht aber auch komponiert haben. Immerhin gibt es Hinweise, dass damals neben dem Orchester auch Chor zum Einsatz kam.

Wie ist der "müde Tod" im filmischen Œuvres von Fritz Lang und im Vergleich zu anderen Stummfilmproduktionen Anfang der 1920er-Jahre zu verorten?

Der Film markiert einen Wendepunkt in Langs Schaffen. Er ist sein erstes großes Meisterwerk, für Filmkennern sogar einer deren Lieblings-Lang-Filme – noch vor "Metropolis" –, wie ich immer wieder zu hören bekomme. Hier findet sich schon alles, was Langs spätere Meisterwerke ausmacht. Zudem besticht der Film durch seine ausgefeilte, sehr ungewöhnliche Erzählstruktur.

Wie entstehen Ihre musikalischen Ideen zu einem Stummfilm? Wie haben Sie sich dem "müden Tod" kompositorisch angenähert?

"Der müde Tod" ist eine besondere Herausforderung für einen Komponisten, da der Film neben der altdeutschen Rahmenhandlung in drei völlig verschiedenen, teils märchenhaften Welten spielt: In einem aufgeheizten Orient, im strengen Venedig der Renaissance und in einem ironisch verzerrten kaiserlichen China – viermal ein anderer Lokalkolorit. Dazu kommt noch die Welt des Todes selbst. Also gilt es, fünf verschiedene kompositorische Ansätze zu finden, die aber wiederum alle "aus einem Guss" kommen müssen, damit das ganze Werk nicht in narratives Stückwerk zerfällt. Das ist einerseits sehr inspirierend, andererseits jedoch ungeheure schwierig. Ich habe mich für eine tonale Tonsprache entschieden, angelehnt an das, was in den ersten Jahrzehnen des 20. Jahrhunderts üblich war: Von der Romantik über die Spätromantik hin zum Impressionismus und Expressionismus. Nur an wenigen Stellen sprenge ich diesen Rahmen, beispielsweise bei der Hausbrand-Szene am Ende des Films.

In der Regel gehe ich bei der Konzeption meiner Kompositionen leitmotivisch vor. Da jedoch in den drei Binnenepisoden ganz neue Figuren auftauchen, die dann wieder verschwinden, sind die Leitmotive und -themen oft nur von kurzer "Lebensdauer". Also galt es, übergeordnete Schwerpunkte der Fabel miteinander zu verknüpfen und das sind im wesentlich zwei: Die Liebe der Protagonisten, um die in jeder Episode gerungen wird, und schließlich das unausweichliche Schicksal. Alles andere ist Ausschmückung und Phantasie. Dementsprechend ist das Hauptthema meiner Musik das gesangliche, tragische Schicksalsthema, welches im Grunde – nachdem die Musik mit dem Thema des Todes kurz eröffnet wird – den Anfang der Musik, bis auf den zweiten am Ende eines jedes Aktes und in einer überraschenden Dur-Wendung auch das Ende der Komposition bildet. Abgesehen davon erscheint es immer fast unverändert, während das zweite Hauptmotiv – das sehnsuchtsvolle Liebesmotiv, welches eigentlich der B-Teil des fröhlicheren "Themas des glücklichen Paares" ist, immer wieder klar erkennbar, aber doch in stark variierter Form auftritt. Entsprechend der Episoden und Situationen wird es dem entsprechenden Lokalkolorit der Episoden untergeordnet. Mal klingt es arabisch, mal chinesisch, mal mittelalterlich, mal wird es zu einem "venezianischen Gondellied" a la Mendelssohn.

Dazu gesellen sich zwei Themen um den Tod selbst: Ein tragisch-verzerrtes, dass dessen eigenen Schmerz beschreibt, und ein düsteres Zwölfton-Motiv, dass nicht wie eines klingt und sich am Ende  sogar zu einer düsteren Fuge steigert. Daneben gibt es natürlich noch zahlreiche weitere Themen und Ideen.

Durch seinen Episodencharakter bietet der Film für einen Komponisten also viele kreative Ansätze ...

Jede Episode hat einen völlig anderen Charakter. Ich entschied mich also auch für sehr verschiedene musikalische Stile. In der orientalische Episode greife ich viel von dem auf, was in der europäischen Kunstmusik des 19. und 20. Jahrhundert als arabisch/orientalisch konnotiert ist: Rhythmen, Instrumentierung, Perkussion und vor allem arabische Skalen bilden die Grundlage einer sehr dichten Instrumentierung. Daraus entwickeln sich zum Beispiel ein wilder Derwisch-Tanz, ein lieblich-leidenschaftliches orientalisches Liebesthema und das kräftige, fanfarenartige und harmonisch expressive Motiv des bösen Kalifen. Sehr ähnlich haben die einst immigrierten Hollywood-Komponisten der 1930er und 1950er Jahre gearbeitet. Meine klaren Vorbilder sind hier beispielsweise Miklós Rózsa und Franz Waxman.

Die venezianische Episode bekommt dagegen einen kammermusikalischen Charakter. Hier dominieren Harfe und Cello im Duett. Die Harmonik und Melodik greift Stilmittel des Mittelalters sowie des Minnesangs auf – soweit sich das definieren lässt. Diese Strenge der Geschichte wird immer wieder von Fritz Lang auffallend geschickt mittels wilder, zügelloser Karnevals-Szenen gebrochen, die den kontrastreichen Hintergrund der intriganten Geschehnisse bilden. Besonders hier zeigt sich, wie musikalisch diese rein visuell gebauten Filme damals konzipiert waren, denn die Filmemacher hatten immer vor Augen, dass die Filme im Kino von der musikalischen Begleitung abhängig sein würden. Insofern gibt der Film auch an vielen Stellen klare musikdramaturgische Hinweise. Neben der renaissanceartigen Karnevalsmusik habe ich hier auch eine wilde Fuge für das Duell am Ende komponiert.

Die chinesische Episode ist ein Unikum in Fritz Langs Œuvres, da es meines Erachtens die einzige Komödie ist, die er je gedreht hat – wenn auch mit tragischem Ende. Und als Komödie habe ich sie auch behandelt. Dabei vermische ich das, was man hierzulande als "chinesisch" konnotierte Klänge interpretiert – Pentatonik und Quint/Quart-Parallelen – mit eine frühen Form des Orchester-Jazz, wie wir ihn bei Gershwin finden. Das ist gewagt, aber äußerst wirkungsvoll und gar nicht so weit hergeholt, wie man annehmen möchte, da auch diese "Jazz"-Formen viel mit Pentatonik und Quint/Quart-Parallelen arbeiten. Da diese Episode besonders ausufernd in ihrer Phantasiefülle ist, boten sich hier auch viele musikalisch reizvolle Einzelszenen an: Die Miniaturarmee oder die ausgedehnt langsame Verfolgung haben mir besonders viel Spaß gemacht.

Wann und wo ist die Premiere der neue Musik angesetzt?

Es gibt am 04. September 2021 eine Doppelpremiere um 16:00 und 20:00 Uhr im Großen Haus des Deutschen Nationaltheaters Weimar als Teil unserer III. Weimarer Stummfilmretrospektive, die wiederum im Rahmen des Kunstfest Weimar 2021 stattfindet. Es spielt die Staatskapelle Weimar in kleiner Besetzung unter der Leitung von Burkhard Götze, mit dem ich schon sehr viel zusammen gearbeitet habe.

Geben Sie uns gerne einen Ausblick auf die kommenden Weimarer Stummfilmtage 2021!

Die Weimarer Stummfilmretrospektive "Im Kreise der Unsterblichen" findet vom 29. September bis 8. August im Lichthaus Kino Weimar statt, abgesehen von der vorgenannten Orchesteraufführung. Wir zeigen insgesamt 15 Filme, die 1921 die Weimarer Spielpläne dominiert haben und noch heute verfügbar sind. Neben einigen bekannten Klassikern wie "Hamlet" mit Asta Nielsen auch heute fast vergessene Filme, wie das vierteilige Serial "Die Jagd nach dem Tode". Dann "Der verlorene Schatten" von Rochus Gliese, der die Geschichte des "Studenten von Prag" in gewisser Weise adaptiert, oder auch Richard Oswalds "Die Reise um die Erde in 80 Tagen" nach Jules Verne. Wir versuchen damit, einen Einblick zu geben, wie der Kinoalltag vor 100 Jahren tatsächlich ausgesehen hat. 1921 liefen in Weimar ​allein 383 Filme, von denen heute nur noch knapp 30 erhalten sind, davon viele wiederum nur fragmentarisch.

Die Veranstaltungen werden alle musikalisch live begleitet. Unsere diesjährigen musikalischen Gäste sind Matthias Hirth (Leipzig), Daan van den Hurk (Niederlande), Camile Phelep (Paris/Berlin), Tobias Rank (Leipzg), Mykyta Sierov (Kiew/Weimar) und die Kino-Organistin Anna Vavilkina (Moskau/Berlin) und ich selbst.

Was sind Ihre nächsten musikalischen Projekte? 

Neben den üblichen regelmäßigen Liveauftritten als Stummfilmpianist werde ich im Winter 2021/22 eine klein besetze Musik für Werner Hochbaums proletarischen Klassiker „Brüder“ für die Stiftung Deutsche Kinemathek komponieren und einspielen. Voraussichtlich für Klavier, Harmonium, Oboe und Violine. Das ganze wird als Pendant zu einer modernen Musik von ZDF/Arte wahrscheinlich 2022 auf DVD und Bluray erscheinen.

Was ist Ihr persönliches Rezept, um gut durch die Coronakrise zu kommen?

Das Thema "Corona" nicht die Gespräche und Gedanken dominieren zu lassen.

Wir danken Ihnen sehr für die spannenden Einblicke und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der III. Weimarer Stummfilmretrospektive!
Das Interview führte Frank Hoyer.
Fotonachweise: privat

Linktipps:
♦ Richard Siedhoff im Internet unter www.richard-siedhoff.de
♦ Trailer zur III. Weimarer Stummfilmretrospektive „Im Kreise der Unsterblichen“ auf YouTube
♦ "Der müde Tod" bei Wikipedia 
♦ "Der müde Tod" bei filmportal.de

Foto: privat

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