Ellen Richter-Retrospektive in Berlin: Interview mit Philipp Stiasny über die lange unbeachtete Filmdiva

Siebzig Filme aus der Wilheminischen Zeit und dem Weimarer Kino werden mit Ellen Richter in Zusammenhang gebracht.

Trotz dieses enormen Gesamtwerkes wurde die Filmschaffende lange Zeit nicht von der Filmgeschichtsschreibung zur Kenntnis genommen. Mit einem Symposium im Jahre 2019, einer Filmschau 2021 in Pordenone und nun mit der ersten deutschen Retrospektive "Ellen Richter – Die große Unbekannte" im Berliner Arsenal Kino wird die Filmdiva wieder ins Rampenlicht gerückt. Stummfilm Magazin sprach mit Philipp Stiasny, der zusammen mit Oliver Hanley und Lihi Nagler die Berliner Filmschau des Kinostars kuratiert. Die Reihe findet vom 14. Oktober bis 06. November 2022 statt.

Ihre Retrospektive trägt den Titel „Ellen Richter – Die große Unbekannte“. Können Sie uns mit Ellen Richter ein wenig bekannt machen?

Neben noch heute bekannten Diven des deutschen Stummfilms wie Asta Nielsen und Henny Porten, Elisabeth Bergner und Lil Dagover war Ellen Richter einer der Topstars des Weimarer Kinos. Zwischen 1915 und 1933 spielte sie die Hauptrolle in gut 70 Filmen, ab 1920 war sie auch Produzentin ihrer Filme und konnte selbst bestimmen, welche Rollen sie spielte. Fast alle ihrer Filme schuf sie ab 1920 in enger Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann, Willi Wolff, der die Drehbücher schrieb und Regie führte.

Geboren wurde Richter 1891 in Wien, absolvierte dort eine Schauspielausbildung am Theater und kam auch als Theaterschauspielerin 1912 nach Berlin. Bald stand sie dann vor der Kamera und konzentrierte sich fortan auf die Filmarbeit. Die Nazis beendeten ihre Karriere 1933 abrupt. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft durfte sie nicht mehr im deutschen Film auftreten. Mit Wolff, der ebenfalls Jude war, emigrierte sie zuerst nach Österreich und dann über Frankreich in die USA. Dort überlebte sie den Holocaust, während viele Mitglieder ihrer Familie umkamen. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat sie nie wieder im Film auf. Sie starb 1969 weitgehend vergessen in Düsseldorf.

Oliver Hanley, Lihi Nagler und ich haben unserer Reihe den Untertitel „Die große Unbekannte“ gegeben, weil Ellen Richters Name heute nicht einmal mehr Fachleuten ein Begriff ist, obwohl sie so produktiv und populär war. Man findet zwar hier und dort ein paar biografische Informationen, ihre Filme aber – und darauf kommt es bei einer Filmkünstlerin natürlich an – sind unbekannt, ja sie waren jahrzehntelang im Grunde unsichtbar. Und das gilt genauso für Willi Wolff und sein Filmschaffen. Wir wollen das ändern.

Es gibt einen zweiten Grund, warum wir unsere Reihe „Die große Unbekannte“ genannt haben. So hieß nämlich auch einer ihrer heute verschollenen Reise- und Abenteuerfilme, die sie und Wolff in allen möglichen Ländern drehte. Als der Film 1924 in die Kinos kam, wussten ihre Fans natürlich, wer mit „Die große Unbekannte“ gemeint war – der Star selbst, also Ellen Richter. Nachdem wir im Herbst 2021 bereits die Ehre hatten, eine Auswahl von Ellen-Richter-Filmen in Italien beim Pordenone Silent Film Festival vorzustellen, glauben wir, es ist nun an der Zeit, dass der einstige Stern auch wieder in Deutschland strahlt.

Was ist denn so besonders an Ellen Richter und ihren Filmen? Warum ist es wert, sie nach so langer Zeit wieder auszugraben?

Es gibt viele Gründe, weshalb es sich lohnt, Ellen Richter kennenzulernen. Ihr Name steht für Charme und Beweglichkeit, für eine neue Weiblichkeit. Die Figuren, die sie spielt, sind furchtlos, abenteuerlustig, eigensinnig. Sie sind mit der neuesten Technik vertraut, sie fahren Auto, sie tun, was sonst Männer tun, kleiden sich extravagant und nach der neuesten Mode. Gelegentlich spielte Richter zu Beginn ihrer Laufbahn auch wirkliche Bad Girls, also die Femme Fatale, die Männer richtiggehend ins Verderben stürzt. Das sind nicht unbedingt Eigenschaften, die uns zu den Rollen von Asta Nielsen oder Henny Porten in den späten 1910er und 1920er Jahren einfallen.

Welche Gründe gibt es noch, Ellen Richter interessant, anziehend, spannend zu finden?

Erstens, die Rollen, die sie spielte: Wir finden diese Rollen ungewöhnlich modern. Wir sehen da eine Frau, die ab 1920 als eigene Produzentin ihr Image auf der Leinwand bestimmte. Sie spielte Abenteurerinnen, Detektivinnen und Künstlerinnen, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Es sind aktive Frauen, die selbstbewusst sind und sich nicht unterkriegen lassen.

Zweitens, der Typ, den sie verkörperte: Schon rein äußerlich unterscheidet sich Ellen Richter mit ihren dunklen Augen, dunklen Haaren (die sie ab Mitte der 1920er als sehr kurzen Bubikopf trug) und je nach Film auch einem recht dunklen Teint von vielen anderen Stars im deutschen Kino dieser Zeit. Zu Beginn ihrer Karriere wurde sie daher auch öfter in sogenannten exotischen Rollen eingesetzt, also etwa als ägyptische Sklavin, als Roma-Frau oder als Japanerin. All das sind klischeebeladen Rollen von gesellschaftlichen Außenseitern, mal die übererotisierte Femme Fatale, mal das Opfer von Diskriminierung und Vorurteilen. Ellen Richter blieb jedoch nicht in diesem Rollenbild stecken, sondern erfand sich ab 1920 neu. Sie ist die Frau mit dem gewissen Etwas, die nicht primär durch melodramatische und erotische Eskapaden auffällt und sich nicht an überkommenen Starrollen abarbeitet. Sie emanzipierte sich von den klischeehaften Erwartungen und männlichen Wunschbildern, die ihr Äußeres, ihre Schönheit und Eleganz weckten. Wobei es natürlich auch ein Wunschbild ist, wenn eine schöne Frau nicht als unerreichbare Dame erscheint, sondern ganz nahbar, als eine Gefährtin und Kameradin, auf die man sich bei Abenteuern verlassen kann.

Und daraus ergibt sich drittens, ihre Art zu spielen: Ellen Richter vereinte in ihrem Spiel Witz und Ironie. Man könnte sagen: Sie spielte Spielerinnen. Selbst in Melodramen blitzt immer wieder eine leicht ironische Auffassung ihrer Rollen durch, eine lässige Souveränität.

Wie erklären Sie sich das – erfreulicherweise! – zunehmende Interesse am Werk und dem Wirken früher Filmpionierinnen, zu denen ja Ellen Richter auch zählt?

Dieses wachsende Interesse ist natürlich die Folge davon, dass die Arbeit von Frauen so lange übersehen worden ist und Frauen – ob als Regisseurinnen, Produzentinnen oder auch Drehbuchautorinnen – im Kanon kaum vorkommen. Nicht erst heute stellen wir als Filmhistoriker und Filmhistorikerinnen fest, dass diese Fixierung auf den Kanon, auf künstlerisch herausragende Filme, ein Fehler ist, weil dadurch so ungeheuer viel unter den Tisch fällt. Prinzipiell ist gegen einen Kanon, der ja auch Orientierung geben kann, nichts einzuwenden, doch hatte diese Fixierung zur Folge, dass die Filme, die andere Ansprüche hatten und früher einmal das Publikum begeisterten, in den Archiven unbeachtet blieben und von Forscherinnen und Forschern allzu lange vernachlässigt wurden. Die teilweise über hundert Jahre alten Filme waren für interessierte Leute auch deshalb unzugänglich, weil die überlieferten Originalmaterialien sehr fragil sind und es nötig gewesen wäre, sie vor einer weiteren Benutzung erst kostspielig zu sichern und zu restaurieren.

Heute sind noch viele dieser Filme, selbst wenn man wollte, kaum noch präsentierbar. Wenn also ein Fan, ein Festival, ein Kino, diese Filme zeigen wollte, wäre das in vielen Fällen kaum möglich. Aber: die Situation bessert sich, es werden immer mehr Facetten des Filmerbes entdeckt, von Archiven restauriert und digitalisiert und dadurch potentiell besser sichtbar. Und das gilt seit einiger Zeit auch für Filme, an denen Frauen in wichtigen Funktionen beteiligt waren. Ihnen wird nun endlich ein wenig historische Gerechtigkeit zuteil. Doch Gerechtigkeit ist nur die eine Seite. Viel wichtiger ist doch, dass wir nun Werke von ganz eigenem Reiz und ganz eigener Bedeutung kennenlernen. Uns tun sich unbekannte, schöne, spannende, vielleicht auch rätselhafte Areale auf. All das würde uns entgehen, wenn wir weiter nur auf den Kanon, auf Lubitsch, Lang und Murnau (so sehr wir sie lieben) schauen – und nicht zur Seite.

Sie sprachen davon, dass Ellen Richters Filme jahrzehntelang „unsichtbar“ gewesen seien. Was meinen Sie damit?

Als wir 2018 mit unseren Recherchen begannen, gab es fast keine restaurierten Filme von Ellen Richter. Die Überlieferung war miserabel, ihre Filme waren über die verschiedensten Archive verstreut, von Stockholm bis Valencia, von Amsterdam bis Moskau. Mehrere überlieferte Filme existierten nur in fragmentarischer Form, man konnte sie kaum am Stück vorführen, weil Teile fehlten und die Handlung dadurch unverständlich blieb. Das gilt leider weiterhin für zwei ihrer wichtigsten Filme, die sie als Action-Darsteller nicht nur in Deutschland berühmt machte: Im Dreiteiler „Die Abenteurerin von Monte Carlo“ spielt Ellen Richter 1921 eine Frau, die allmählich lernt, mit was für einem verlogenen, intriganten Mann sie verheiratet ist. Sie wendet sich ab und geht einen eigenen Weg, der sie nach Marokko führt, wo sie mitten in den Aufstand der Berber gerät. In „Die Frau mit den Millionen“ spielt sie 1923 eine junge Armenierin, die sich an einem osmanischen Pascha rächen, weil dieser ihre Familie zerstört hat. Der Genozid an den Armeniern lag damals nur wenige Jahre zurück, und Ellen Richter war unseres Wissens die Einzige, die dieses hochpolitische Thema damals in einem Spielfilm aufgriff.

Wir sind glücklich und auch stolz, dass, angeregt durch unsere Nachfragen und Recherchen, mehrere Filme von Ellen Richter in den vergangenen zwei Jahren restauriert und teilweise in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert werden konnten. Der öffentlichen Hand sei Dank, ebenso privaten Förderern. Deshalb dürfen wir nun in unserer Retrospektive immerhin sieben ihrer Filme in ganz frischen Kopien präsentieren.

Auf welche Filme kann sich das Publikum der Berliner Retrospektive besonders freuen?

Das Publikum kann sich auf alle Filme der Reihe freuen, es ist für jeden Geschmack etwas dabei. Ich nehme nur zwei Beispiele heraus: Ein Highlight ist sicher die Komödie „Moral“ von 1928. Vor der Restaurierung unter Aufsicht meines Mitkurators Oliver Hanley war dieser Film eine reine Ruine, ein Fragment, durcheinander, unverständlich. In anderen Worten: kaum ansehbar. Für die neue und sehr aufwendige Restaurierung mussten Materialien aus verschiedenen europäischen Archiven kombiniert werden, neue Zwischentitel angefertigt und der Schnitt anhand historischer Quellen rekonstruiert werden. Das Resultat zeigt nun, dass wir es mit einem Hauptwerk von Ellen Richter zu tun haben. Sie ist großartig in der Rolle eines Bühnenstars, der von einigen provinziellen Sittenwächtern angefeindet wird – und sich dagegen zur Wehr setzt. Sie tut das, indem sie heimlich Filmaufnahmen der Männer anfertigt und sie dadurch in ihrer Doppelmoral bloßstellt. Die Tiller Girls sind auch mit von der Partie. Dazu wird eine neu komponierte Musik für Piano und zwei Saxophone von Frido ter Beek zu hören sein, die am 14. Oktober ihre Premiere erlebt. Frido ter Beek, der in Argentinien lebt, wird eigens dafür anreisen und seine Komposition zusammen mit Maud Nelissen und Daphne Balvers aus den Niederlanden aufführen.

Ich persönlich bin auch sehr gespannt auf „Aberglaube“ am 21. Oktober. Dieser Film wurde erst 2020 im Eye Filmmuseum in Amsterdam lokalisiert und konnte kurzfristig, dank der großzügigen Unterstützung durch eine private Stiftung in den USA, analog und digital gesichert werden. Begleitet wird „Aberglaube“ von Richard Siedhoff am Flügel und Mykyta Sierov an der Oboe. Ellen Richter spielt darin eine gesellschaftliche Außenseiterin, die am Ende von einem aufgebrachten Mob gesteinigt wird. Es fällt schwer, diese Geschichte nicht auch als ein Echo der antijüdischen Pogrome in Osteuropa während und nach dem Ersten Weltkrieg zu verstehen. Ein Thema also, dem die Jüdin Ellen Richter ganz bestimmt nicht gleichgültig gegenüberstand.

Alle Filme der Schau werden ja live begleitet ...

Oh ja, wir haben das große Glück, dass unsere Reihe vom Hauptstadtkulturfonds gefördert wird – und dadurch haben wir die Möglichkeit, Musikerinnen und Musiker nach Berlin einzuladen, die hier sonst fast nie auftreten. Besonders freuen wir uns, dass mit einer Ausnahme alle Stummfilme von einem Duo, einem Trio und in einem Fall sogar von einem Quartett begleitet werden. Wir glauben, dass jeder Musiker und jede Musikerin durch das gemeinsame Spiel im Ensemble wacher, kreativer, also besser wird und all das, was man als Routine bezeichnet, über Bord wirft. Die Pianistin Meg Morley aus London wird beispielsweise mit dem Perkussionisten Frank Bockius aus Freiburg zusammenspielen (der an einem Tag auch mit dem Pianisten und Violinisten Günter Buchwald spielen wird); der Multiinstrumentalist Stephen Horne wird mit der Harfenistin Elizabeth-Jane Baldry ein Duo bilden; beide kommen aus Großbritannien zu uns. Ein Duo aus Violine und Klavier bilden Sabrina Zimmermann und Mark Pogolski, die das musikalische Erbe des Komponisten Aljoscha Zimmermann pflegen und lebendig halten; mit Flöte und Klavier werden uns Constanze Lobodzinski und Anna Vavilkina beglücken. Ein Quartett aus David Schwarz (Piano), Maren Kessler (Cello), Thomas Prestin (Saxophon) und Stefan Berger (Kontrabass) wird den Reise- und Abenteuerfilm „Der Flug um den Erdball“ mit allen musikalischen Aromen und Rhythmen dieser Welt ausstatten. Und zum krönenden Abschluss, wenn Marlene Dietrich mit Monokel in ihrer ersten Hauptrolle in der Ellen-Richter-Produktion „Der Juxbaron“ zu sehen ist, werden Ekkehard Wölk (Piano), Kristoff Becker (Cello) und Andrea Marcelli (Schlagzeug) für gehörigen Druck sorgen. Die Leute auf der Leinwand sollen schließlich tanzen.

Fazit: Stummfilmkennerinnen und -kenner ebenso wie Musikenthusiasten werden in unserer Retrospektive garantiert auf ihre Kosten kommen und viel erleben. Wer weiß, vielleicht gehen sie als Fans von Ellen Richter wieder nach Hause.

Wir danken Ihnen sehr für die interessanten Einblicke und wünschen der Retrospektive viel Erfolg!
Das Interview führte Frank Hoyer

Linktipps:
Arsenal Kino Berlin
Wikipedia zu Ellen Richter 
IMDB zu Ellen Richter 
Filmportal zu Ellen Richter

Bildnachweise: DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum

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