"Chicago" auf ARTE: Interview mit Franziska Schonger und Dr. Rolf Giesen

Am 19. April 2021 ist um 23:35 Uhr bei ARTE TV Heinrich Hausers "Chicago"-Film in einer frisch restaurierten Fassung und mit einer neuen Musikbegleitung des Musikers Andy Miles als Erstausstrahlung zu erleben.

Der Film ist nicht nur ein meisterhaftes Beispiel für die montageorientierten Städtefilme aus der Blütezeit und Spätphase des Stummfilms, sondern auch ein Bindeglied zwischen den Filmemachern Heinrich Hauser und Hubert Schonger (rechts im Bild, mit seinem Sohn Ulrich).

Stummfilm Magazin sprach mit Franziska Schonger, Enkelin von Hubert Schonger und Geschäftsführerin von Schongerfilm, und dem Filmhistoriker und -publizisten Dr. Rolf Giesen über "Chicago" und die Freundschaft zwischen Heinrich Hauser und Hubert Schonger.

Was ist das Besondere an "Chicago"? Können Sie uns einen Einblick in die Entstehungsgeschichte geben?

Dr. Rolf Giesen: Städte als Stars – das war die Idee der avantgardistischen Filmemacher der 1920er Jahre. Erinnert sei an "Berlin – Die Sinfonie der Großstadt", in gewisser Weise auch an "Menschen am Sonntag". Das Porträt der Stadt Chicago, das Hauser gezeichnet hat, steht in der Tradition dieser Filme und ist doch ein ganz eigenständiges Werk: keine impressionistische Studie, kein experimentelles Städtepoem, kein touristischer Reisefilm, keine gestellten Aufnahmen, schon gar nicht einer der gängigen Kulturfilme. "Weltstadt in Flegeljahren" fällt aus dem Rahmen. Hausers Film ist zugleich eine Liebeserklärung an die "schönste Stadt der Welt" ebenso wie ein ungeschminktes Dokument aus der Zeit der Depression, das von den Armen und Ärmsten handelt. Eine Bild-Reportage, auf die der Begriff Autoren-Film im wahrsten Sinne zutrifft.

Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen Heinrich Hauser und Hubert Schonger? Wie lernten sich die Männer kennen?

Dr. Rolf Giesen: Hauser und Schonger kamen über den Dokumentarfilm "Die letzten Segelschiffe" zusammen, den Hauser ursprünglich selbst verliehen hatte. Vielleicht kannten sie sich sogar schon früher. 1931 jedenfalls übernahm Hubert Schonger die "Segelschiffe", die in verschiedenen Fassungen existierten, in seinen Vertrieb. Werner Adomatis schnitt aus dem Material für Schonger 1941 den Kurzfilm "Männer, Meer und Stürme".

Wie lässt sich das Verhältnis von Heinrich Hauser und Hubert Schonger beschreiben? Was verband sie, was unterschied sie?

Dr. Rolf Giesen: Heinrich Hauser war Weltreisender, Schriftsteller, Feuilletonist, Journalist, Seefahrer, Flieger, kurz: ein Abenteurer. Diese Qualitäten und die Tatsache, dass Hauser fotografierte und filmte, machten ihn für Hubert Schonger interessant. Hausers Leben war ein mutiges Leben. Er ging Wagnisse ein, ebenso wie Hubert Schonger, der zeitlebens, als kleiner Betrieb, nicht minder Risiken einging, angefangen bei seinem Engagement für den Kulturfilm über seinen ersten Spielfilm "Lohnbuchhalter Kremke", den er einer Regisseurin – Marie Harder – anvertraute, bis hin zur Unterstützung des Neuen Deutschen Films. Zum Beispiel wäre Peter Fleischmanns "Herbst der Gammler" ohne ihn nicht möglich gewesen. Hubert Schonger war viel mehr als "nur" ein Märchenfilm-Produzent. Schonger wollte Hausers "Chicago" übrigens als Lehrfilm vertreiben, aber das entsprechende steuerbefreiende "Prädikat" wurde ihm von der in Berlin ansässigen halbamtlichen "Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht", nach ihrem Vorsitzenden Professor Dr. Felix Lampe "Lampe-Ausschuss" genannt, verweigert. Das hatte letztlich zur Folge, dass der Film ins Archiv wanderte, wo er seitdem unangetastet lag.

Frage: Wie sahen die Restaurierungs- und Digitalisierungsmaßnahmen von "Chicago" aus?

Dr. Rolf Giesen: Sechs gut erhaltene, später stark geschrumpfte Rollen Originalnegativ fanden sich in Hubert Schongers Nachlass. Die Länge im Bundesarchiv war mit 1502 Metern angegeben, die Zensurlänge mit 1687 Metern. 1993 wurde der Film restauriert, zwei Jahre später, am 19. März in der Deutschen Kinemathek und am 15. September 1995 im Rahmen eines Kongresses der International Association for Media and History wiederaufgeführt, am 24. Januar 1998 im Filmmuseum München.

Franziska Schonger: 2016 ließen wir dann das Negativ digitalisieren, Mathias Bitz von Picture Look hat die Restaurierung übernommen. Dazu gehörten Bildstandskorrekturen, eine neue Lichtbestimmung und eine Reduzierung des Kornrauschens. Da das Material durchgehend starke produktions- und altersbedingte Schäden aufwies, musste teilweise mit einem hohen Einsatz händischer Korrekturen gearbeitet werden. Für die internationale Auswertung haben wir die Texttafeln englisch untertitelt. Außerdem die eingesprochenen Textpassagen – Ausschnitte aus Hausers Buch "Feldwege nach Chicago" – der experimentellen WDR-Tonfassung von 1998. Diese Passagen haben wir für Hörgeschädigte auch deutsch untertitelt.

Steht der Film nach seiner Wiederentdeckung jetzt wieder für Stummfilmaufführungen zur Verfügung?

Franziska Schonger: Ja, über öffentliche Vorführungen würden wir uns sehr freuen. Wir haben sämtliche Aufführungsrechte und können den Film in beiden Tonfassungen, also die vom WDR von 1998 wie auch den neuen Soundtrack von Andy Miles, auch als DCP zur Verfügung stellen. Und ein sehr schönes neues Artwork ist anlässlich der Wiederveröffentlichung entstanden.

Sind derzeit weitere Veröffentlichungen aus dem Rechtekatalog von Schongerfilm geplant, etwa auf Blu-ray/DVD? Vielleicht sogar Material aus der Stummfilmzeit?

Franziska Schonger: Wir denken noch über einige Projekte nach. Zum einen wäre da "Lohnbuchhalter Kremke", einer der letzten deutschen Stummfilme, von Marie Harder inszeniert und von meinem Großvater produziert. Zum anderen ist die Geschichte Hauser/Schonger noch nicht abgeschlossen. So liegen die Rechte für "Die letzten Segelschiffe" ebenfalls bei Schongerfilm. Dann gibt es noch Hausers Filmprojekt "Man of Aran" aus den späten 1920ern, das er zusammen mit Liam O’Flaherty realisierte, wobei hier – wenn überhaupt – nur Fragmente erhalten zu sein scheinen.

Wir danken Ihnen für die spannenden Einblicke und wünschen Ihnen alles Gute in diesen herausfordernden Zeiten. 
Das Interview führte Frank Hoyer. 
Bildnachweise: privat (Hubert und Ulrich Schonger, Dr. Rolf Giesen); absolut Medien GmbH (Blu-ray-Cover zu "Chicago")

Linktipps 
Webseite ARTE  
Blu-ray/DVD "Chicago" von absolut Medien  
Online-Booklet zur Blu-ray/DVD "Chicago" von Dr. Rolf Giesen 
Heinrich Hauser auf Wikipedia 
Hubert Schonger auf Wikipedia 
Schongerfilm

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