"35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin": Interview zur aktuellen Ausgabe

Seit 2014 widmet sich die Zeitschrift 35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin (35MM) dem Kino von seinen Anfängen bis ins Jahr 1965.

Die aktuelle Ausgabe #44 mit Erscheinungstermin Dezember 2021 hat als Schwerpunkthema "Metro-Goldwyn-Mayer", das weltberühmte Filmstudio mit dem Kürzel MGM und dem brüllenden Löwen im Logo. Stummfilm Magazin nahm das Heft zum Anlass für ein Gespräch mit Chefredakteur Clemens Williges, dem stellvertretenden Chefredakteur Marco Koch und dem Herausgeber Jörg Mathieu.

Welche fünf oder sechs Filme aus dem MGM-Repertoire fallen Ihnen spontan ein?

Jörg Mathieu: MGM ist in der Tat etwas speziell. Es gab zwar Genre-Schwerpunkte, aber in jedem bedienten Genre hatten andere Studios meist die besseren Titel im Programm. Ich nenne hier gerne meine Top 5 aus unserem Magazin: Das wäre "Freaks" (1932) zu nennen, der mich bereits als Jugendlicher dermaßen beeindruckte, dass er bis heute zu einem meiner Favoriten zählt. Eine starke soziale Aussage zu einer Zeit, in der man in Deutschland bereits schreckliche Pläne hatte, wie man `missgestaltete´ Menschen aus der Gesellschaft entfernt. "Dr Schiwago" (1965) ist ohne Zweifel ein vor allem visuelles Meisterwerk von einem meiner Lieblingsregisseure, David Lean. Einen der besten Anti-Kriegsfilme hat MGM mit "Die große Parade" (1925) bereit zur Stummfilmzeit abgeliefert – ganz großes humanistisches Gefühls-Kino. Mit "Der Mann, der die Orhfeigen bekam" (1924) gelang dem Studio nicht nur einer der besten Filme mit Lon Chaney in der Hauptrolle, sondern auch ein erschütterndes und sehr bewegendes Melodram. Über "Das Haus der Lady Alquist" (1944) muss man nicht viel sagen – ein All-Time-Classic und einer der schönsten „Gaslight“-Mysteries.

Marco Koch: Ich muss leider gestehen, dass die MGM nicht zu meinen Lieblingsstudios gehört, da mein persönlicher Geschmack und der typische MGM-Stil etwas auseinanderliegen. Bei Universal, Warner und auch RKO finde ich mich da mehr wieder. Zudem nehme ich der MGM übel, wie sie genialen Komikern wie Buster Keaton, Laurel & Hardy und den Marx Brothers die humoristischen Zähne gezogen hat. Aber auf jeden Fall sollte man mal den "Ben Hur" von 1925 gesehen und über seine chaotische Produktionsgeschichte gelesen haben. Und die Lon-Chaney-Geschichten natürlich auch. Die Greta-Garbo-Filme mag ich auch sehr. Und "The Wizard of Oz" (1939) und" The Three Musketeers" (1921) sowieso. Mein vielleicht gar nicht so geheimer Geheimtipp wäre der tolle Noir "Act of Violence" (1948). Und einen großen Platz in meinem Herzen hat "Mad Love" (1935) mit Peter Lorre.

Clemens Williges: Für mich sind die Jahre 1924 bis 1934 am spannendsten. Da hatten zumindest die bekannteren Regisseure noch gewisse kreative Spielräume. Ich mag "The Magician" (1926) von Rex Ingram. Das ist ein vergessener Horrorfilm mit Paul Wegener in der Hauptrolle, über den ich in Ausgabe #21 von 35 Millimeter geschrieben habe. "Ben Hur" (1925) war einer der ersten Stummfilme, die ich als Kind im TV sah, eine beeindruckende Erfahrung. Einige der wunderbarsten Stummfilme aller Zeiten hat King Vidor für MGM erschaffen: den bereits erwähnten "The Big Parade" (1925), das bewegende Drama "The Crowd" (1928) und die köstliche Komödie "Show People" (1928). Auch in der ersten Hälfte der 1930er entstanden bei MGM großartige Filme. Die Horrorfilme waren hinsichtlich ihrer Themen häufig gewagter als die von Universal – was das Publikum meist nicht goutierte. Ein Film, auf den die oft allzu eilfertig genutzte Zuschreibung "seiner Zeit voraus" tatsächlich zutrifft, ist "Freaks": 1932 ein kommerzielles Desaster, 1962 beim Filmfestival in Venedig als Wiederentdeckung gefeiert. Übrigens, in den 35MM-Redaktionscharts steht Tod Brownings Plädoyer für Diversität mit acht Stimmen einsam an der Spitze. Den Abschluss meines MGM-Lieblingsjahrzehnts bildet die Pre-Code-Komödie "The Thin Man" (1934).

Und welche Schauspieler*innen kommen Ihnen in den Sinn? MGM soll ja in den 1930er Jahren mehr Stars unter Vertrag gehabt haben, als es Sterne am Himmel gibt, zumindest hat es damit geworben ...
 

Jörg Mathieu: Lon Chaney, Greta Garbo, Joan Crawford, Katharine Hepburn, James Stewart würde ich da nennen wollen – was natürlich eine persönliche Präferenz voraussetzt. Schaut man sich aber alle Namen der 30er-Jahre an, die bei MGM unter Vertrag standen, dann war der Slogan nicht übertrieben.

Marco Koch: Lon Chaney und Greta Garbo habe ich vorhin ja schon erwähnt. Eine Entdeckung für mich war John Gilbert, gerade in "Queen Christina" (1933). Und dann gab es da ja auch noch Jean Harlow und Clark Gable. Gene Kelley ist natürlich auch wichtig, gerade für die erfolgreichen MGM-Musicals. Wie auch Judy Garland und Esther Williams. Allerdings sind Musicals nicht mehr ganz so mein bevorzugtes Metier. Das war in meiner Kindheit noch anders. Da habe ich auch die "Tarzan"-Filme mit Johnny Weissmüller geliebt.

Clemens Williges: Myrna Loy und William Powell sind für mich das MGM-Leinwandtraumpaar. Sie haben in "The Thin Man" (1934) und darüber hinaus eine tolle Chemie. Als Kind mochte ich gerne Ritterfilme wie "Ivanhoe" (1952) oder "Knights of the Round Table" (1953). Deren Star Robert Taylor war mir namentlich damals natürlich kein Begriff. Taylor ist in gewisser Weise der Studio-Star schlechthin, denn er war 24 Jahre bei MGM unter Vertrag, so lang wie kein anderer Star bei irgendeinem Studio. Mein Lieblingsstar der Stummfilmzeit ist ganz klar Lon Chaney. Insbesondere seine Filme mit Regisseur Tod Browning verdienen mehr Aufmerksamkeit.

MGM ist ja durch die Fusion von verschiedenen Filmstudios in der Stummfilmzeit entstanden ...

Clemens Williges: Über die Vor- und Frühgeschichte von MGM ließe sich ein ausführlicher 35MM-Artikel schreiben. Sie beginnt 1904 in New York. Marcus Loew gründet eine Kinokette, die in den folgenden 15 Jahren stetig wächst. Filme bezieht Loew’s, Inc. zum Festpreis von der Famous Players-Lasky Corporation, der späteren Paramount. Doch weil deren Chef Adolph Zukor Gewinnbeteiligungen durchsetzen will, kauft Marcus Loew 1920 Metro Pictures, um künftig seine Kinos selber mit Filmen versorgen zu können. Zukor wiederum beginnt, unabhängige Kinos aufzukaufen, um für seine Filme einen sicheren Absatzmarkt zu haben. Viele Produktionsfirmen ohne eigene Kinos bekommen in den Folgejahren wirtschaftliche Probleme, so auch Goldwyn Pictures. Samuel Goldwyn wird aus der Firma gedrängt. Die Eigentümer wenden sich an Marcus Loew und bieten den Verkauf an. Goldwyn Pictures hat ein sehr großes Studiogelände, Metro Pictures hat viele Stars. Das passt gut zusammen. Benötigt wird nun noch ein Studiochef. Daher kauft Loew auch die relativ kleine Louis B. Mayer Pictures. Im April 1924 werden die drei Firmen verschmolzen. Für Mayer ist der Rollenwechsel vom Eigentümer eines Independents zum Topangestellten eines Majors ein großer Karriereschritt. Und innerhalb eines Jahres setzt er durch, dass nicht mehr "Metro-Goldwyn Picture, produced by Louis B. Mayer" auf den Titelkarten der Filme steht, sondern dass der Studioname Metro-Goldwyn-Mayer lautet. Bereits ab 1926 ist MGM das erfolgreichste Studio Hollywoods und bleibt dies durchgängig bis 1943. Der wichtigste Mann neben Louis B. Mayer ist Produktionschef Irving Thalberg. Dieser stirbt 1936 im Alter von 37 Jahren. Fortan leitet Mayer das Studio alleine, erhält aber fast täglich Anweisungen von Nicholas Schenck, dem Vorstandsvorsitzenden von Loew’s, Inc. Allen Leser*innen mit Interesse an der Entstehungsgeschichte des Studiosystems empfehle ich Folge 2 von 35 Millimeter – Der Retro-Film-Podcast. Darin bin ich zu Gast bei Marco Koch und spreche unter anderem auch über die Anfänge von Louis B. Mayer im Filmverleihgeschäft.

Welche Aspekte des Filmstudios rückt 35MM in seiner aktuellen Ausgabe in den Mittelpunkt?

Clemens Williges: Unsere Wahrnehmung von Hollywood als Traumfabrik wird ja bis heute in erster Linie von den großen MGM-Klassikern der 30er, 40er, und frühen 50er Jahre geprägt. Diese klammern wir bewusst aus. Wir versuchen, unseren Leser*innen weniger bekannte, aber gleichermaßen interessante Filme nahezubringen. Ein Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe ist das MGM-Kino der frühen 30er Jahre, mit Porträts der Regisseure George W. Hill und Jack Conway sowie einem Beitrag über die unverschämtesten Pre-Code-Filme der MGM. Daneben finden sich Einzelartikel zu den Filmen "Irrwege des Lebens" (1931), "Die Maske des Fu-Manchu" (1932), "Blinde Wut" (1936) und "Die Braut trug Rot" (1937). Ein zweiter Schwerpunkt ist das Kino der späten Jahre, mit Artikeln über Stewart-Granger-Western, Cinerama, Science-Fiction und die Miss-Marple-Filme der MGM British. Außerdem enthält das Heft einen ausführlichen Artikel zum Film Noir bei MGM. Auf der Internetseite von 35MM finden sich weitergehende Informationen zum Inhalt des Heftes.

Wie ist eigentlich die Idee für 35MM entstanden?

Jörg Mathieu: So spontan und neu war die Idee 2013 gar nicht. Ich hatte bereits Erfahrungen in der Gestaltung von Filmmagazinen gesammelt und war auch bei anderen Magazinen in der Redaktion, und bereits Chefredakteur. Ich wollte jedoch etwas schaffen, was meiner persönlichen Leidenschaft für das klassische Kino entspricht und eine Lücke auf dem deutschsprachigen Markt schließen könnte. Und mein Moto war es immer schon: "Wenn du etwas vermisst, was es noch nicht gibt, mach es selbst. Und wenn du Glück hast, geht es ein paar anderen Menschen genau wie dir."

Was weiß man über die Leser*innen von 35MM? Und was können Sie uns über die Autor*innen erzählen?

Jörg Mathieu: Mehr als die Namen und Adressen weiß man da eigentlich nicht, da wir nur selten ausführliches Feedback bekommen. Mehr als ein "macht weiter so" kommt da leider kaum. Was wir aber wissen ist, dass es einen großen männlichen Überhang gibt und diese zwischen 35 und 66 Jahren alt sind. Bei 70MM fällt diese Altersgrenze jedoch deutlich nach unten aus. Durch eine wirklich gute Themenmischung erreichen wir aber wohl einen breiten Geschmack bei den Leser*innen. Unsere Autor*innen suchen wir inzwischen noch bewusster und gezielter aus. Aber auch hier bilden wir einen guten Querschnitt zwischen Filmfans und Filmwissenschaftler*innen ab. Eine gute Redaktion sollte immer auch die gewünschte Zielgruppe abbilden. Das schafft eine hohe Identifikation auf beiden Seiten.

Können Sie uns schon einen ersten Ausblick auf die Themenschwerpunkte in 2022 geben?

Clemens Williges: Leser*innen unseres aktuellen Heftes wissen bereits, dass es im März mit dem Thema Animationsfilm weitergeht; darunter Texte zu Lotte Reiniger und Władysław Starewicz‘ Fabeladaptionen der 1920er. Und exklusiv in diesem Interview kann ich die drei darauffolgenden Themenschwerpunkte für 2022 verraten: Im Juni veröffentlichen wir eine Ausgabe zum Pre-Code Hollywood, im September widmen wir uns Filmen, in denen der Zirkus und Sideshows eine zentrale Rolle spielen und im Dezember geht es mit unserem Studiozyklus weiter. Dann dreht sich alles um Paramount Pictures, den ersten vertikal integrierten Filmkonzern. Daneben gibt es Serien, Spezialartikel, Kolumnen und Rubriken. Für Leser*innen des Stummfilm Magazins dürften die in Ausgabe #45 startende Serie über Asta Nielsen sowie die Berichte von Stummfilmkonzerten in Berlin, Bremen und Braunschweig von Interesse sein. Ich persönlich freue mich besonders auf Ihre Rubrik, Herr Hoyer, die Sie ab März 2022 regelmäßig exklusiv für 35 Millimeter verfassen.

35MM hat nun mit "70 Millimeter" (70MM) ein Spin-off-Magazin bekommen, das die Kinojahre ab 1965 bis in die 1970er Jahre beleuchtet? Was ist die Idee dahinter?

Marco Koch: Wir haben schon früh festgestellt, dass viele unserer Redakteur*innen eine ganz besonders große und tiefe Liebe für das Kino der späten 60er und der 70er Jahre haben, und gerne bei uns darüber schreiben würden. Auch seitens unserer Leser*innen wurden wir häufig gefragt, ob wir den Zeitrahmen von 35MM nicht erweitern könnten. Also haben wir letztes Jahr beschlossen, dem inneren und äußeren Drängen nachzugeben und einmal zu schauen, ob sich ein Heft, welches sich ausschließlich mit den Jahren 1966 bis 1975 beschäftigt, auch verkaufen würde. So entstand die Testnummer 0. Und die Resonanz war wirklich überwältigend. Die Testnummer war binnen kürzester Zeit ausverkauft und das Feedback unserer Leser*innen extrem ermutigend. Da war für uns klar, dass das Magazin in Serie gehen muss. Da Clemens sich ganz auf die 35 Millimeter konzentrieren wollte, habe ich dann ab der Nummer 1 die Chefredaktion übernommen. Auch für mich eine ganz neue Erfahrung. Die Grenze 1975 ist übrigens ganz bewusst gewählt. Ist es der Tod des alten Hollywoods um 1965 herum, welches die zeitliche Grenze bei der 35MM definiert, ist es bei der 70MM das Blockbuster-Kino modernen Zuschnitts, welches mit "Jaws" 1975 seinen Anfang nahm.

Und wo sind die beiden Magazine erhältlich?

Jörg Mathieu: Als wir anfingen und über die Auflage nachdachten, waren die Ziele natürlich sehr ambitioniert. Wer will sein Print-Produkt nicht am Kiosk und im Handel sehen? Wer träumt da nicht von großen Vertriebswegen? Wir haben vieles versucht und hatten auch einige Verkaufsstellen in Deutschland. Inzwischen gibt es unsere Magazine nur noch im Direktvertrieb und exklusiv in unserem Online-Shop der Magazin-Homepage. Den Erscheinungsmodus haben wir von zwei auf drei Monate ausgedehnt, auch um genug Zeit zu haben um 70MM zu erstellen. Dafür haben wir aber den Umfang dauerhaft auf 80 Seiten festgelegt. Ansonsten sind unsere Produkte auch in einigen Bibliotheken in Deutschland und im Ausland einzusehen, so in Düsseldorf, Berlin, Frankfurt am Main, Saarbrücken, Stockholm, München und Bern.

Herzlichen Dank für die spannenden Einblicke und weiterhin viel Erfolg.
Das Interview führte Frank Hoyer.
Bildnachweis: 35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin
 

Internetseite von "35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin"

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