100 Jahre "Häxan": Prof. Dr. Marcus Stiglegger über den Stummfilmklassiker von Benjamin Christensen

Im Herbst 1922 kam der seinerzeit umstrittene Aufklärungs- und Dokumentarfilm "Häxan" in die Kinos – eines der Hauptwerke des dänischen Regisseurs Benjamin Christensen (1879-1959) und heute ein Meisterwerk des expressionistischen Films.

Für Herbst 2022 hat das deutsche Label Xcess eine Blu-ray mit der restaurierten Fassung des Films und diversen Features angekündigt. Auch der Filmwissenschaftler und Musiker Prof. Dr. Marcus Stiglegger nimmt das Filmjubiläum zum Anlass für eine Veröffentlichung: Mit seiner Musikformation Vortex hat er einen neuen Soundtrack zu "Häxan" eingespielt, der im Juni 2022 bei dem Label Cyclic Law Frankreich als LP/CD-Box erscheinen wird. Stummfilm Magazin sprach mit Prof. Dr. Stiglegger über "Häxan" und seine neue Musik zum Film.

"Häxan" ist nach wie vor ein außergewöhnlicher Film, vor allem in gestalterischer Hinsicht. Was hebt dieses Werk aus der Masse der Stummfilmproduktionen heraus und lässt einen heute noch erstaunen ... und auch erschaudern?

Benjamin Christensen hatte sich persönlich sehr in die Recherche zum Thema Hexenverfolgung vertieft und reflektiert nicht nur die historischen Aspekte, sondern auch die okkulten und heidnischen Dimensionen, die sich in den Hexenprozessen und im damaligen "Handbuch", dem "Malleus maleficarum", nachlesen lassen. So dokumentiert der Film "Häxan" die Prozesse, Verhöre, Folter und Hinrichtungen, wendet aber zudem viel Phantasie und Spezialeffekte auf, um die Imaginationen des Hexenlebens zu bebildern. So enthält der Film zahlreiche Fantasy- und Horrorsequenzen, die damals technische Maßstäbe setzten und auch heute noch beeindrucken. Stopmotion-Animationen, Masken und auch freizügige Nacktheit mischt Christensen zu einer mysteriösen Bildwelt, die eine Wiederentdeckung lohnt.

Können Sie uns einen kleinen Einblick in die Produktionsgeschichte geben, die ja immerhin drei Jahre dauerte?

Benjamin Christensen arbeite diese drei Jahre intensiv, um das für die dokumentarischen Einschübe des Films notwendige Hintergrundwissen zusammenzutragen. Mit damals 300.000 Kronen Budget galt "Häaxan" als der teuerste Stummfilm, der je in Skandinavien produziert wurde. Die Kosten wurden vor allem gesteigert, da das Filmstudio nicht über die benötigte Ausstattung verfügte und man diese erst installieren ließ. Dazu kamen die Außendrehs in Schweden, Norwegen und Dänemark, um Aufnahmen von Felslandschaften, Bergen und Naturszenerien zu ergänzen, die später fast nicht im Film verwendet wurden. Der ursprüngliche Plan, eine Filmtrilogie zu produzieren, wurde verworfen. Neben Hexerei sollte es um Heilige und Spiritismus gehen. Einige Elemente flossen dann in den Hexenfilm ein. In der Ambition, einen Lehrfilm zu inszenieren, der zugleich wissenschaftliche Fakten erklären und unterhalten sollte, musste Christensen die Sprache des Films neu durchdenken. Sein Ansatz zur Erklärung von Besessenheit suchte die Quelle in der Hysterie als eine damals "spezifisch weiblichen Krankheit" definierten Phänomenologie und wirkt heute zweifellos überholt, doch diese Intentionen waren aufklärerisch gemeint.

Die Veröffentlichung von "Häxan" ist ja auch eine Geschichte der Filmzensur ...

Das ist komplex. Wie Jack Stevenson in seinem Buch (2006) über den Film betont, war der Film bei seiner Uraufführung heftig umstritten: "Häxan" enthält für seine Zeit ein erstaunliches Ausmaß an Nacktheit, Folterdarstellung, Blasphemie und Kirchenkritik, es war Christensen jedoch gelungen, ihn ohne Auflagen in Schweden zu produzieren – statt in seinem Heimatland Dänemark. In der Tonfilmzeit (1941) ergänzte der Regisseur die ursprüngliche Fassung um eine von ihm selbst gesprochene Einleitung. Obwohl einige Länder den Film zweifellos für ihre Zwecke bearbeiteten, gibt es keine verbindlichen Nachweise einer Zensurkürzung. Für die 1960er-Fassung wurden vor allem Szenen gestrafft, um den Film der Zeit anzupassen. Heute sind alle bekannten Fassungen des Films verfügbar. Der Film erfuhr meines Erachtens keine Zensur in dem Ausmaß, wie man es von anderen Filmen jener Jahre kennt.

Benjamin Christensen ist neben seiner Funktion als Regisseur und Drehbuchautor auch in der Rolle des Teufels zu sehen. Da kann man den Eindruck bekommen, dass der Film für ihn eine Art Herzensangelegenheit war. Was war dieser Christensen für ein Mensch und Künstler?

Das stimmt, Christensen war von diesem Thema weithin fasziniert und drehte noch die dem Horrorgenre verpflichteten Filme "Sieben Schritte zu Satan" (1929), "The Devil’s Circus" (1926) und "House of Horror" (1929). Obwohl er mit "Häxan" im Grunde das Genre des Essayfilms erfunden hatte, drehte er als Regisseur weitgehend Genrefilme, darunter "Sohn der Taiga" (1927) mit Lon Chaney. "Häxan" war allerdings sein größtes und bekanntestes Projekt. Dass er hier als Teufel zu sehen ist, geht weit über ein Cameo à la Hitchcock hinaus. Das Abgründige, Okkulte und Mystische faszinierte Christensen, und es war seine erklärte Absicht, diese Bereiche einem großen Publikum zu erschließen und sich selbst in diesem Kontext als Experte zu präsentieren.

Man kann sich beim Anschauen von "Häxan" kaum des Eindrucks erwehren, dass sich F. W. Murnau bei seinem "Faust"-Film (D 1926) und noch mehr Carl Theodor Dreyer bei "Die Passion der Jungfrau von Orléans" (F 1928) von "Häxan" haben inspirieren lassen. Und immer wieder wird betont, dass der Film einen großen Einfluss auf das Horrorgenre gehabt hat.

Ja, "Häxan" hatte zweifellos in seiner Zeit, aber auch später Einfluss auf die Film- und auch Musikwelt. So wurde in den 1960er Jahren ein kürzere Tonfilmversion erstellt, die einen Offkommentar des Cut-Up-Literaten William S. Burroughs enthält. Auch diese Version wird im Xcess-Mediabook des Films enthalten sein. Zudem hat Ken Russell in seinem ebenso berüchtigten phantasmagorischen "Die Teufel" (1971) ein historisches Ereignis verfilmt, auf das sich auch "Häxan" bezieht: die besessenen Nonnen von Loudon. Im Horrorgenre ist es Hammers "Die Braut des Teufels" (1967) von Terence Fisher, der in der Sabbath-Szene Bezüge aufweist. Legendär wurde "Häxan" dann in der Underground-Kultur der 1980er Jahre, wo er als VHS-Kopie kursierte. So habe ich ihn kennengelernt – mit Burroughs’ Kommentar als "Witchcraft Through the Ages". Aktueller hat sich zweifellos Robert Eggers bei "The Witch" (2015) von "Häxan" inspirieren lassen.

Wie haben Sie sich mit Ihrer Band Vortex dem Film musikalisch genähert?

Die Herausforderung war, einen angemessenen, zeitgenössischen Sound zu finden, der die Bilder ergänzt und nicht dominiert. Da der originale Soundtrack des Films aus vorhandenen klassischen Stücken bestand, wurde "Häxan" oft neu vertont. Ich selbst habe ihn vor Jahren im Berliner Babylon mit einem präparierten Klavier vertont gesehen. Das ist nicht unser Zugang. Ich habe Vortex 2008 gegründet, um unserer apokalyptischen Gegenwart einen atmosphärisch-rituellen Klang zu geben. Seitdem habe ich sechs eigenständige Alben und zahlreiche Kooperationen sowie Filmmusiken ("Dark Circus", "Das letzte Land") auf internationalen Labels veröffentlicht. Bei Vortex arbeite ich mit akustischen Klangquellen, meiner eigenen Stimme und Percussions, die elektronisch verarbeitet werden. Dazu kommen Gäste mit Streichern, E-Gitarre oder Vocals.

Ich habe "Häxan" wiederholt gesehen und mir kontinuierlich Notizen gemacht. Aus diesen Notizen entstand ein Ablaufplan mit klaren Markierung, wann welcher Sounds und Instrumente, Rhythmen usw. passen könnten. So nahm ich zahlreiche akustische Instrumente auf und kombinierte sie in experimentellen Mixen mit elektronischen Flächen. Es basiert also alles auf einem Ablaufplan statt einer Partitur. Dieser Prozess dauerte etwa ein Jahr, bis ich im Januar 2022 zufrieden war und die Musik zum Label schicken konnte. Cyclic Law ist hierfür ideal, denn es hat einen starken Bezug zu Performance-Kunst und Film sowie morbiden Themen.

Ich würde das Ergebnis als hypnotisch-psychedelisch und extrem finster bezeichnen – fernab von klassischen Stummfilmvertonungen. Statt Klavierklängen sind hier Kehlkopfgesang, Schamanentrommeln und die Tremolo- und Drone-Gitarrenakkorde von Oliver Freund (MARS) verarbeitet worden. Auf diese Weise werden wir den Film für ein anderes Publikum öffnen können – und hoffentlich die Hörgewohnheiten von Stummfilmfans konstruktiv herausfordern.

Wird der Soundtrack auch live zu hören sein?

Live-Performances von Vortex sind rar und als Rituale zu verstehen, die mit spezifischen Koinzidenzen und Orten gekoppelt werden. In diesem Sinne wird die Premiere des Konzepts "Häxan" zu Halloween 2022 im Frankfurter Kino "Harmonie" stattfinden.

Können Sie uns noch einen Ausblick auf Ihre nächsten (Stummfilm-)Projekte geben?

Ich hoffe, wir können "Häxan" im nächsten Jahr bei einigen Festivals und in Kinos präsentieren. Für Anfragen bin ich gerne offen. Musikalisch werde ich zusammen mit meinen Kollegen von Nam-khar aus Frankfurt ein Konzeptalbum über den psychoanalytisch definierten Todestrieb entwickeln (Label: Zazen Sounds, Griechenland). Filmwissenschaftlich bin ich auch in der Filmveröffentlichung von "Häxan" involviert, mit einem analytischen Audiokommentar, den ich zusammen mit Dr. Kai Naumann aufgenommen habe.

Danke für die interessanten Einblicke! Wir sind auf Ihre "Häxan"-Musik und die Blu-ray schon sehr gespannt und wünschen Ihnen weiterhin gutes Gelingen.

Vielen Dank!

Das Interview führte Frank Hoyer. 
 

Linktipps: 
Webseite Prof. Dr. Marcus Stiglegger 
Filmpodcast Prof. Dr. Marcus Stiglegger 
Trailer "Häxan" Vortex-Album  
Label Cyclic Law   
Wikipedia "Häxan" 
IMDB "Häxan" 
Wikipedia Benjamin Christensen 

Lesetipp auf Stummfilm Magazin: Interview mit Prof. Dr. Marcus Stiglegger über die Blu-ray-Veröffentlichung von Paul Lenis “The Man Who Laughs” (Wicked Vision Distribution).

Bildnachweis: Marcus Stiglegger
 

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