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Premiere der rekonstruierten Fassung von "La Roue" in Berlin

Am Samstag, den 14. September 2019, wird um 14:00 Uhr im Konzerthaus Berlin die aufwändig rekonstruierte Fassung von „La Roue“ uraufgeführt.

Die Vorstellung findet im Rahmen des Musikfest Berlin statt. Abel Gance, der spätestens mit seinem monumentalen Historienfilm Napoleon (F 1927) Filmgeschichte schrieb, drehte die vierteilige Familiensaga in den Jahren 1919 bis 1922 in damals zukunftsweisender Gestaltungs- und Montagetechnik. In die Kinos kam das Werk 1923.

Die Aufführung am 14.09.2019 mit der ebenfalls rekonstruierten Filmmusik von Arthur Honegger und Paul Fosse dauert sieben Stunden zuzüglich drei Pausen. Frank Strobel dirigiert das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.

Stummiflm Magazin hat anlässlich der Uraufführung der rekonstruierten Fassung und der anschließenden Fernseherstaustrahlung auf ARTE (28. Oktober 2019 und 04. November 2019) ein umfangreiches Dossier über das bemerkenwerte Stummfilm-Werk zusammengestellt. Informationen zur Aufführung in Berlin findet man hier.

{slider Das Projekt}

Mit "La Roue" schuf der Kino-Visionär Abel Gance eine große Familiensaga, die Motive des antiken Ödipus- und Sisyphos-Stoffes verarbeitet und als moderne Tragödie mit den Mitteln des Kinos erzählt. Der mehrteilige Film entstand von 1919 bis 1922 und ist mit seiner innovativen Gestaltung und Montagetechnik ein Meilenstein der Filmgeschichte. Die offizielle Premiere des Films war am 17.02.1923 im Gaumont Palace. Der Film hatte einen Prolog und vier große Akte mit einer Gesamtdauer von 8,5 Stunden und war für Aufführungen im Wochenrhythmus konzipiert.

Für die Premiere stellte Arthur Honegger mit dem Kinokapellmeister des Gaumont Palace, Paul Fosse, eine Kino-Musik unter Rückgriff auf bestehende Musiken zusammen und komponierte die Ouvertüre und 5 kurze Stücke. Die vierteilige Fassung lief 1923 in ganz Frankreich, im Jahr darauf kürzte Gance den Film um die Hälfte auf zwei Teile. Dank intensiver Forschungsarbeit ist es möglich, die Premierenmusik von 1923 zu rekonstruieren. Erst mit einer adäquaten Musik erschließt sich die Konzeption von Abel Gance, Motive der antiken Mythologie für die Moderne

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{slider Zur Film- und Musikrekonstruktion}

Der Film wurde auf Initiative der Fondation Jérôme Seydoux-Pathé in Bologna restauriert. Ziel war es, der vierteiligen Premierenfassung von 8,5 Stunden möglichst nahe zu kommen. Da der Film sukzessive gekürzt und geändert wurde – zuletzt montierte Abel Gance selbst noch eine Tonfassung – sind vom Kamera-Negativ nur 14 der ursprünglich 32 Rollen in einer veränderten Montage erhalten. Dieses Material wurde mit Materialien von Kopien anderer Archive (Cinémathèque suisse Lausanne, Cinémathèque française, Lobster-Films, Gosfilmofond Moskau) ergänzt.

Bei dieser Filmrestaurierung orientierte sich das Team auch an der überlieferten Musikliste, die das einzige authentische Dokument der Premierenfassung ist. Insofern arbeiteten beide Teams Hand in Hand. Der Rekonstruktion der Premierenmusik, für die der Mainzer Komponist Bernd Thewes verantwortlich war, ging eine mehrjährige Forschungsarbeit des Musikwissenschaftlers Jürg Stenzl voraus. Ihm gelang es, 112 der insgesamt 117 Titel zu identifizieren und für die meisten Stücke Notenmaterialien zu finden, die parallel zur Filmrekonstruktion neu zum Bild eingerichtet werden mussten. Waren Stücke nicht mehr auffindbar, wurden sie durch verwandte Musiken der jeweiligen Komponisten ersetzt.

Die Einspielung mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) unter Leitung von Frank Strobel ist in Verbindung mit der öffentlichen Premiere am 14.09.2019 in Berlin. Die ARTE Sendung erfolgt zum 130. Geburtstag des Regisseurs an zwei Abenden am 28.10. und 04.11.2019. Mit der Rekonstruktion dieser Kompilationsmusik, die Honegger in enger Abstimmung mit Abel Gance zusammengestellt hat, wird nicht nur die längste Kinomusik der Stummfilmzeit wieder zur Aufführung gebracht, sondern wird auch erfahrbar, wie sich die künstlerische Konzeption von Abel Gance in der Musik vollendet und welch essentielle Bedeutung Musik im Film hat.

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{slider Abel Gance zur Entstehung von \"La Roue\"}

"Mein Freund Arthur Honegger und ich schwärmten beide für Lokomotiven, waren von den Zügen und ihrer Kraft fasziniert. Ich sagte mir: Wenn du ein inneres Drama findest, das der Schönheit des äußeren Dramas der Lokomotiven, der Maschinen entspricht, und wenn ich eine Verbindung zwischen den beiden herstelle, könnte mir etwas Originelles und Kraftvolles gelingen. Von daher hatte ich die Idee des Oedipus-Themas mit Sisif und seinem Sohn Elie, der sich in die Frau verliebt, von der er glaubt, sie sei seine Schwester. Diese Idee hat sich so sehr mit dem Drama der Lokomotiven und der Züge verbunden, dass ich sie nicht mehr trennen konnte, das Drama der Lokomotiven nicht von der Tragödie von Sisif, noch das psychologische Drama ohne die Lokomotiven oder die Bergbahn. Ich habe auch schwarz und weiß einander gegenübergestellt, da der zweite Teil im Schnee als weiße Sinfonie spielt und der erste Teil in schwarz und dem Schweiß."

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{slider Die Premierenmusik}

Die Premierenfassung von 8,5 Stunden wurde mit insgesamt 117 Musikstücken begleitet, davon 6 Originalkompositionen von Arthur Honegger. Für die Kinomusik nutzen Honegger und Paul Fosse aus pragmatischen Gründen zwar existierende Musiken, verfeinern aber ihre Musikauswahl nach wohl überlegten künstlerischen Kriterien. Wie die Forschungen des Musikwissenschaftlers Jürg Stenzl bestätigen, verwirft Arthur Honegger das im Stummfilmkino geläufige Prinzip der Adaption populärer klassischer Meisterwerke. "Er fordert, auch wenn es um präexistente Musik geht, anspruchsvolle, möglichst rezente Musik. Das hat zur Folge, dass Werke der französischen Moderne – Florent Schmitt, Guy Ropartz, Albéric Magnard, Paul Dukas, Albert Roussel und späte Kompositionen von Debussy, sowie die "Cinéma-Fantasie" von Darius Milhaud von 1919 Aufnahme fanden. Von den 56 Komponisten, von denen Musik verwendet wurde, lebten 1922 noch zwei Drittel."

Honeggers und Fosse sehen weitgehend von sinfonischen und besonders bekannten Werken ab und versuchen, wie Honegger in einem Artikel selbst sagt, eine ‚anekdotische Illustration des Bildes‘ zu vermeiden. Die Musik sollte vielmehr ‚Seelenlagen‘ zum Ausdruck bringen. Damit vertritt der Komponist die Vorstellung einer Teilautonomie der Musik gegenüber dem Bild bereits für den Stummfilm. Vor allem geht es Honegger ‚um eine möglichst absolute Korrespondenz zwischen der einen Filmausschnitt bestimmenden Bedeutung und seiner rhythmisch-musikalischen Bekräftigung‘, also um eine Musik, die die symbolische Dimension des Films versteht und sie rhythmisierend fortschreibt. Arthur Honegger hat für diesen Film seine erste Filmmusik komponiert. Sie ist zum Teil als Reinschrift in der Sammlung Honegger der Paul-Sacher-Stiftung in Basel erhalten und war Ausgangspunkt seines Orchesterstücks Pacifique 2.3.1. von 1923.

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{slider 12 Fragen zur Musik an Bernd Thewes}

DIE LISTE VON PAUL FOSSE

1. Von der Premierenmusik von "La Roue" ist eine vierseitige Liste mit handschriftlich notierten Musikstücken überliefert. Daraus entstanden nun 11.000 Seiten Orchestermusik: Wie lange dauerte diese Rekonstruktion?

Insgesamt drei Jahre, wenn man den gesamten Prozess der Recherche in Frankreich und unsere Arbeit hier in Deutschland zusammenrechnet.

2. Wie muss man sich den ursprünglichen Einsatz dieser Liste mit den 117 Musiktiteln vorstellen?

Sie ist ein Verzeichnis von Stücken, die in der Notenbibliothek des Gaumont Palace, damals eines der größten Kinos der Welt, wohl vorhanden waren. Paul Fosse als Kapellmeister legte seinem Orchester diese Stücke auf die Pulte und markierte in seiner Liste, welche Ausschnitte zu spielen sind, also etwa aus Félix Fourdrain ‚poèmes dramatiques‘: Takt 7 – 10, oder aus dem Prelude des 2. Aktes der Oper ‚L’Etranger‘ von Vincent d‘ Indy: ganz bis zu Machefer in der Lokomotive. Manchmal sind auch Studierziffern genannt, was für uns bedeutete, verifizieren zu müssen, ob wir auch die gleiche Notenausgabe wie Fosse zur Verfügung hatten.

3. Gelang es, alle 117 Stücke wiederzufinden?

Ironischerweise sind die größten Lücken bei Honegger, dessen Name so oft als Autor dieser Filmmusik genannt wird, und der die einzigen handlungsbezogenen Stücke komponierte. Von Honegger ist nur die Ouvertüre für den Prolog des Films erhalten, überliefert als Autograph mit dem Titel ‚La Roue‘.Daraus entstand später ‚Pacific 231‘. Aber die drei kurzen Stücke ‚Musique accident‘, ‚Disques‘, ‚Catastrophe‘ sind verschollen. Nicht mehr wiederzufinden waren auch ‚Symphonie Humaine‘ von Charles Pons und ‚Cher passé‘ von Abriès (3.14). Wir haben statt dieses Stückes Duponts ‚Les Enfants jouent dans le jardin‘ aus dem Zyklus ‚Les Heures Dolentes‘ genommen. Sonst waren alle aufgeführten Stücke wiederzufinden.

ZUR REKONSTRUKTION DER MUSIK

4. Drei Jahre dauerte die Rekonstruktion der siebenstündigen Musik, jetzt liegt sie in einem spielfertigen Notensatz vor. Wie viele Leute waren daran beteiligt?

Insgesamt sieben Mitarbeiter: Max James recherchierte in Pariser Archiven und online nach verfügbarem Notenmaterial. Im nächsten Schritt wurde dieses Material in einen elektronischen Notensatz überführt. Die Stücke wurden dabei zuerst in ihrer Version als Klavierauszug eingegeben. War der originale Klavierauszug nicht vorhanden, stellten ich oder mein Assistent Diego Ramos Rodriguez diesen selbst her. Er und Jan Kohl, beide als ausgebildete Musiker und Komponisten sehr wichtige Mitarbeiter in diesem Projekt, überwachten und beteiligten sich am Kopieren in ein Notationsprogramm, das wiedergabefähig sein musste, um die Musik mit dem Film vergleichen zu können. Meine Aufgabe war, dem Zusammenspiel von Musik und Bild auf die Spur zu kommen und dem Filmrestaurierungsteam Hypothesen zu liefern, die auch in die Filmrestaurierung eingegangen sind. Dafür stellte ich zu jedem Stück Ansichts-Videos mit Musik her – eine langwierige und zugleich hochinteressante Arbeit. Ein weiterer großer Arbeitsbereich war die Herstellung des orchestralen Notensatzes. Dafür hatten wir drei weitere Kollegen am Start. Zusätzlich war noch der Musikwissenschaftler Jürg Stenzl in das Projekt einbezogen. Er hatte sich bereits vor unserem Projekt mit einer Analyse der Musiken beschäftigt und eine erste Zuordnung auf die frühere Restaurierung von Lobster Films und Flicker Alley unternommen. Ihm verdanken wir viele wertvolle Hinweise.

5. Wie rekonstruiert man eine orchestrale Filmmusik?

Dazu gehören zwei große Aufgabenbereiche: die Orchestrierung und zuvor die Synchronisierung von Musik und Film. Für meine Arbeit war wesentlich, die gesamte Musik in Klavierfassung zur Verfügung zu haben, um diese experimentell an den Film anzulegen. Diese Zeitleiste ist die Matrix der ganzen Unternehmung, auf sie beziehen sich die Synchroneinrichtung im Klavierauszug, die Übertragung auf das Orchester und die Synchronangaben fürs Dirigat. Letztere sind textliche Verweise auf den Film an exakt den Taktpositionen, die dem betreffenden Filmzeitpunkt entsprechen. Auf Basis der Klavierauszüge konnte ich praktikable Ansichtsversionen herstellen, die mit dem Filmteam besprochen wurden. Wenn vorhanden, konnte ich bestehende Orchesteraufnahmen der Stücke durch vorsichtiges Time-Stretching so anpassen, dass ich den Restauratoren die Klangfarben der Musik und die Dynamik der Instrumentierung vorführen konnte. Es war mir wichtig, von vornherein eine Vorstellung des orchestralen Klangs zu vermitteln, deshalb nutzte ich z.T. vorhandene Orchesteraufnahmen der Stücke, z.T. simulierte ich den Klang elektronisch. Wir trafen uns regelmäßig in Paris zur gemeinsamen Sichtung am Bildschirm, und manche Stellen musste ich mehrfach überarbeiten, bis beide Seiten überzeugt waren, dass es passt. Dieser Prozess der Synchronisierung war phasenweise zeitaufwendig, aber es war auch sehr aufschlussreich zu beobachten, wie Musik und Film ineinander greifen und wechselseitig den Takt vorgeben.

6. Gab die Musik auch eine Art Fahrplan für die Filmrestaurierung vor?

Ja, denn die Musik ist das einzig authentische Dokument der Premierenfassung. Andererseits belegt diese Liste nur die Abfolge, sie ist kein eindeutiges Dokument, da es bei live gespielter Musik sehr auf die Gestaltung der Tempi ankommt. Verblüffend war, wie schnell man sich einig ist, wenn es passt – aber es gab auch sehr knifflige Passagen, in denen Filmmaterial fehlte bzw. die Musiken nicht mehr vollständig zu rekonstruieren waren.

7. Was macht genau das ‚Rekonstruktive‘ aus: Synchronpunkte finden? Wieviel Spekulation ist dabei, wieviel schöpferische Arbeit ist nötig?

Die Liste gab uns manche Rätsel auf. Denn selbst wenn Synchronpunkte genannt sind, bedarf es einer gewissen Interpretation, diese Punkte dem Film zuzuordnen. Wenn z.B. dasteht: ‚bis zum Unfall‘, ist nicht klar, auf welchem Moment sich diese Angabe bezieht – bis zu dem Punkt, wenn sich der Unfall anbahnt, oder dann, wenn die Züge zusammenstoßen. Aber genau in diesen Details entscheidet sich das dynamische Zusammenspiel von Musik und Bild. Bei diesen 117 Stücken handelt es sich ja vorwiegend um vorbestehende Musiken aus Opern, Sinfonien und Genre-Stücken, aber diese Musiken wurden mit viel Intuition von Paul Fosse und Honegger ausgesucht, dass sie so gut passen, als wären sie zum Film komponiert. Insofern ist meine Arbeit auch mit der eines Kinokapellmeisters vergleichbar, der mit flexiblen Tempi das Zusammenspiel von Film und Musik verfeinert und herstellt. Zum Teil musste ich echte Detektivarbeit leisten und Zuordnungen vornehmen, die meinem eigenen Verständnis des Films und einer dazu passenden Musik geschuldet sind. Denn es fehlen ja 60 Minuten Film! Da kam mir die Zusammenarbeit mit François Ede, der die Filmrestaurierung leitete, sehr zugute. Auf Basis seiner beachtlichen Kenntnisse der Filmhistorie in Theorie und Praxis konnte ich viele interessante Lösungen entwickeln.

ZUR MUSIK

8. Welche Rolle hatte Honegger und was weiß man von seiner Zusammenarbeit mit Gance? Erstaunlicherweise weiß man wenig, obwohl es Fotos von Gance und Honegger gibt, die während der Entstehung des Films zu Werbezwecken gemacht wurden. Es wäre sehr interessant, mehr darüber zu erfahren, wie Honegger, Gance und Fosse zusammengearbeitet haben. Denn im Zusammenspiel von Film und Musik hat man ja den Eindruck hat, dass hier ein enger Austausch stattgefunden hat. Fosse hatte mit dem Kompilieren verschiedenster Musiken zum Film, die er selbst „adaptations“ nannte und auch als ein künstlerisches Werk verstand, sehr viel Erfahrung und war durch seine genaue Kenntnis der Stücke für den jungen aufstrebenden Komponisten Honegger ein idealer Mentor. Vice versa zeigt sich ein Einfluss von Honegger auf Fosse darin, dass in der Kompilation zwar die berühmten französischen Komponisten jener Zeit vertreten sind, aber meist nicht mit ihren bekanntesten Werken. Genau das fordert es Honegger in seinen theoretischen Äußerungen zur filmmusikalischen Ästhetik der Kompilation. Seine These lautet, dass ein allzu bekanntes Stück assoziativ nicht mehr frei genug sei, sich den filmischen Anforderungen anpassen zu können. Allerdings finden wir in der „adaptation“ zu "La Roue" auch Stücke, bei denen das etablierte Wissen vom Bedeutungsgehalt der Musik das Zusammenspiel von Film und Musik bereichert. Das sind dann eher kleinere Charakterstücke wie ‚Plaisir d’amour‘ von Martini, weniger die großformatigen, hochdramatischen Werke eines Vincent d’Indy.

9. Welche Komponisten sind echte Entdeckungen?

In Frankreich dürften die meisten Komponisten bekannter sein als hier in Deutschland. Aber auch dort scheint jemand wie Albéric Magnard durchaus eine Neuentdeckung zu sein. Mich selbst beeindrucken die Musiken am meisten, die ich nur wenig kannte, wie die von Jean Roger-Ducasse, Félix Fourdrain, Charles-Marie Widor, Philipp Scharwenka, Vincent d’Indy, Gabriel Dupont (seine sinfonische Musik vor allem im letzten Teil des Filmes), Jules Mazellier, Alfred Bruneau, Eugène Cools oder Albert Roussel.

10. Gibt es etwas, was alle Stücke stilistisch verbindet?

Was die stilistische Einordnung der Musikauswahl betrifft, sehe ich ein duales Auswahlmodell: Zum einen gibt es die großformatigen, spätromantisch instrumentierten sinfonischen Stücke wie Scharwenkas ‚Dramatische Phantasie‘, deren 12-minütiger 1. Satz das Liebesbekenntnis des Protagonisten und die vielen filmischen Rückblenden nicht nur begleitet, sondern vielmehr energetisch „trägt“. Zum anderen gibt es die vielen kleinen Charakterstücke, die die komischen Filmszenen eher atmosphärisch begleiten, wie etwa Benjamin Godards ‚Polka‘, wenn der Heizer Machefer sein Gesäß in der Lokomotive verbrennt und über die Gleise davonrennt.

DAS PROJEKT IM KONTEXT DER FILMMUSIK-FORSCHUNG UND STUMMFILMREZEPTION

11. Nach den sinfonischen Musikrekonstruktionen für "Rosenkavalier" (2006), "Berlin, die Symfonie der Großstadt" (2007) oder "Oktober" (2012), an all denen du als Restaurator und Orchestrator beteiligt warst, ist mit "La Roue" (2018/19) nun die längste Filmmusik der Stummfilmära rekonstruiert. Gibt es außer diesem Längenrekord noch etwas anderes Einmaliges?

Einmalig ist für mich, dass diese Kompilationsmusik so gut wie eine Originalmusik funktioniert, vielleicht sogar besser. Denn welcher einzelne Komponist könnte diese betörende kompositorische Meisterschaft in einer solchen Vielfalt bieten, wie sie in dieser Kompilation quasi als Kollektivwerk gegeben ist? Eine Steigerung könnte ich mir lediglich dann vorstellen, wenn Honegger/Fosse zu Abel Gances doch sehr männlichen Sichtweisen der Frau auch Werke von Komponistinnen hinzugezogen hätten. Bemerkenswerterweise illustriert diese Musik nicht Orte und Zeitläufe und liefert auch kaum eine psychologisierende Ausdeutung der Filmhandlung. Sie funktioniert anders, nämlich energetisch. Mit ihrer unterschiedlichen Energetik entspricht sie dem Film in seiner Mischung aus tragischen und burlesken Sequenzen, von melodramatischer Erzählung und experimentellen Montagen, von beschleunigten Totalen und zerdehnten Close-ups. Abel Gance beschreibt sein Kino als eine „Musik des Lichts“, er hat die Vision eines monumentalen Kinos, das gerade nicht über Individualpsychologie funktioniert – manchmal entgleisen ihm ja die 4 Figuren ins Groteske und Überzeichnete. Da kommt man mit konventionell-illustrativer Filmmusik nicht weit. Eine weitere Erkenntnis: dass die Musik so gut zum Film „funktioniert“, hat auch mit ihrer Klangsprache zu tun. Als Musik der frühen Moderne und des Symbolismus schmiegt sie sich gewissermaßen an die Bilder, eine klassizistische Musik hätte bei weitem nicht diese Flexibilität. Diese an der Klassik orientierte Musik ist gewissermaßen rechteckig in ihren metrischen Dispositionen. Dagegen bewegen sich viele der von Fosse ausgesuchten großformatigen Stücke eher wellenförmig und ergänzen die hochdramatischen Szenen von Abel Gance kongenial. Man hat den Eindruck, als sei ihre formbildende Energetik im gleichen Geiste wie der Film entstanden. Und noch etwas Einmaliges: Abel Gance war ein Grenzgänger und entwickelte eine Filmsprache, die performativ funktioniert und die den großen Raum braucht. Er nutzt zwar viele moderne Filmtechniken, im Zusammenspiel mit der kompilierten Musik aber verhält sich der Film, vor allem in den Innenraum-Szenen, zur Musik so ähnlich wie das Bühnengeschehen einer Oper.

12. Heißt das, man kann die Filmmusikgeschichte umschreiben, in der die Kompilationsmusik eher als Notbehelf und ästhetisch zweitklassig bezeichnet wird?

Mit diesem Werk stoßen wir auf jeden Fall eine neue Tür auf und sollten manche Zuschreibungen bzw. die Geringschätzung von Kompilationsmusik revidieren. Allerdings geben manche Kompilationsfassungen dazu auch Anlass, nämlich dann, wenn sie nicht mehr sind als ein Potpourri von Charakterstücken oder wenn sie die Handlung mit musikalischen Klischees im Stil eines Schauerdramas ausmalen. Stücke wurden fürs Kino der Stummfilmzeit auch gerne rein assoziativ ausgewählt, die ästhetische Struktur der Werke hat dann kaum etwas mit dem Schnittrhythmus der Filme zu tun. Das ist bei "La Roue" anders. Da gibt es eine bemerkenswerte Korrespondenz von Filmrhythmus und Tektonik der ausgewählten Musiken. Die Filmmusik trifft geradezu kongenial die Filmästhetik von Abel Gance, die selbst zwischen Symbolismus und früher Moderne changiert.

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{slider Inhaltsangabe}

Epoche 1

Sisif, ein passionierter Techniker und Lokomotivführer, rettet bei einem Eisenbahnunglück die zweijährige Norma aus den Trümmern und nimmt das Mädchen bei sich auf. Zusammen mit seinem Sohn Elie zieht er Norma als seine Tochter auf, weder ihr noch seinem Sohn offenbart er ihre Herkunft. Norma wächst zu einer begehrenswerten jungen Frau heran, für die Sisif eine unheimliche Leidenschaft entwickelt. Auch Elie, inzwischen ein versierter Geigenbauer, empfindet für seine vermeintliche Schwester eine heftige Liebe, die Sisif eifersüchtig registriert. Sein Vorgesetzter Hersan interessiert sich ebenfalls für Norma und hegt den Plan, sie zu heiraten. Sisif willigt ein, um sich aus seiner fatalen Leidenschaft zu lösen, und vertraut Hersan das Geheimnis von Normas wahrer Herkunft an. Norma lehnt den Heiratsantrag ab und will Hersan auf keinen Fall heiraten.

Epoche 2

Hersan will die Ehe mit Norma erzwingen und erpresst Sisif mit der Androhung, Norma von ihrer Herkunft zu erzählen. Aus Sorge um ihren labilen Vater stimmt Norma einer Heirat zu, Sisif will sie persönlich zur Eheschließung fahren. Auf dem Weg nach Paris versucht er den Zug entgleisen lassen, um gemeinsam mit Norma zu sterben. Der Heizer Machefer kann dies gerade noch verhindern. Einige Monate später entdeckt Elie das Familienbuch und versteht allmählich die wahren Familienverhältnisse. Er wirft seinem Vater vor, durch die arrangierte Ehe mit Hersan verhindert zu haben, dass er Norma heiraten kann. Da geschieht ein weiteres Unglück. Sisif erleidet einen schweren Augenunfall, weil sein Heizer Machefer aus Versehen ein Dampfventil geöffnet hat. Sisif soll wegen Sehschwäche pensioniert werden. Doch er kann es nicht ertragen, dass ein Anderer seine Lokomotive „Norma“ fährt und steuert sie mit Wucht gegen einen Prellblock. Nach dem Vorfall wird er in die französischen Alpen zu einer Bergbahn strafversetzt.

Epoche 3

Sisif lebt mit Elie in einer Berghütte auf dem Mont Blanc. Dort bedient er die Bergbahn, während Elie Geigen baut. Norma ist mit ihrem Ehemann auf Urlaub in den französischen Alpen. Die Ehe ist unglücklich und Hersan ist aufgrund riskanter Börsengeschäfte finanziell ruiniert. Elie hingegen hat als Geigenbauer eine große Zukunft und fährt zu einem Violinwettbewerb nach Chamonix, der in dem Hotel ausgetragen wird, in dem Norma und Hersan einquartiert sind. Norma erkennt Elies Violine an ihrem Klang wieder. Die beiden vermeintlichen Geschwister gestehen sich ihre Liebe, als Hersan unerwartet auftaucht. Vergeblich bittet Norma ihren Mann, sie gehen zu lassen. Stattdessen vergewaltigt er sie. Dann verfolgt er Elie. Die beiden Männer treffen in den Bergen aufeinander. Hersan zieht seine Pistole, Elie kann sie ihm entwenden und beide ringen im Faustkampf an einem Abgrund. Hersan stößt Elie in die Tiefe, er kann sich jedoch an einer Wurzel festhalten und schießt auf Hersan. Sterbend wankt Hersan zur Sisifs Hütte. Sisif macht sich zusammen mit Norma auf die Suche nach Elie, der sich nicht mehr halten kann und abstürzt. Sisif schickt Norma davon, da er ihr die Schuld am Tod seines Sohnes gibt.

Epoche 4

Norma und Sisif trauern um den verstorbenen Elie. Ohne Elie kommt der inzwischen blinde Sisif kaum zurecht; Norma ist nach dem Tod ihres Mannes mittellos und arbeitet als Näherin. In der Hoffnung auf eine Aussöhnung reist sie in die Berge. An Elies erstem Todestag stellt Sisif ein großes Kreuz an der Stelle auf, an der sein Sohn den Tod fand. Norma hat sich inzwischen heimlich in Sisifs Hütte eingerichtet und versorgt ihn wortlos. Ein Suchtrupp versucht, Elies Leiche aus dem Gletscher zu bergen, die Aktion bleibt jedoch erfolglos. Norma und Sisif söhnen sich aus und führen ein friedliches Leben, entrückt von der Welt. Da kommen junge Leute in die Gipfelregion und verabschieden den Sommer mit langen Tänzen. Sie holen Norma in ihren Kreis. Sisif stirbt am Fenster und schaut auf Norma, die im Licht verschwindet.

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{slider Credits}

"La Roue (F 1923 / 2018) – ca. 420 Min.
Regie und Buch: Abel Gance
Darsteller/innen: Séverin-Mars (Sisif), Ivy Close (Norma), Gabriel de Gravone (Elie), Pierre Magnier (Jacques de Hersan), Max Maxudian (Le minéralogiste Kalatikascopoulos), Georges Térof (Machefer), Gil Clary (Dalilah), Géo Dugast (Le cheminot Jacobin)
Kamera: Gaston Brun, Marc Bujard, Léonce-Henri Burel, Maurice Duverger
Schnitt: Marguerite Beaugé
Musik: Arthur Honegger, Paul Fosse (Kompilation)
Produktion: Films Abel Gance, Pathé
Uraufführung: 17.02.1923, Gaumont Palace, Paris: Prolog, 4 Teile (8,5 Std)
Restaurierung: L‘ Immagine Ritrovata, Bologna
Material: Cinémathèque Française, Cinémathèque Suisse, Lobster Films
Edition: François Ede
Produktion: Fondation Jérôme Seydoux-Pathé, Sophie Seydoux
Musikrekonstruktion: Bernd Thewes
Einspielung: Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB)
Dirigent: Frank Strobel
Redaktion: Nina Goslar (ZDF/ARTE), Stefan Lang (DLR)
Ausführender Produzent: 2eleven | zeitgenössische musik projekte
ARTE Sendung: 28.10.2019 / 04.11.2019
Live Premieren: deutsche Estaufführung am 14.09.2019 im Rahmen des Musikfestes Berlin, französische Erstaufführung im Auditorium Lyon am 19.10.2019 und 20.10.2019 im Rahmen des Festival Lumière
Eine Koproduktion von Fondation Jérôme Seydoux-Pathé, ZDF/ARTE, Deutschlandfunk Kultur, RundfunkSinfonieorchester Berlin

"La Roue" bei Wikipedia
"La Roue" bei IMDB

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Textquelle: Medieninformationen Fondation Jérôme Seydoux-Pathé, ZDF/ARTE, Deutschlandfunk Kultur, RundfunkSinfonieorchester Berlin; Bild: Stummfilm Magazin/Frank Hoyer