1947 veröffentlichte der emigrierte Soziologe und Filmkritiker der Frankfurter Zeitung, Siegfried Kracauer (1889–1966), in Princeton seine Untersuchung "From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film", die ganz entscheidend unser Verständnis des deutschen Stummfilms geprägt hat.
Für Kracauer spiegelt Film gesellschaftliche Entwicklungen wider, sei es offen oder indirekt und verschlüsselt. Im deutschen Film vor 1933 sieht er „Kollektivdispositionen" einer kulturellen Verunsicherung: Das Chaos nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Kaiserreichs wird reflektiert in Geschichten von Identitätsverlusten, übermächtigen Tyrannenfiguren und der Betonung des Schicksalhaften. Der Angst vor der Moderne, die mit Althergebrachtem bricht, wird mit einer indifferenten Flucht zurück in die Natur begegnet. Ansätzen zu Realismus und Neuer Sachlichkeit fehlt der Mut zur Hinterfragung politischer Ursachen. Als im deutschen Film zu Beginn der Tonfilmzeit vereinzelt engagierte Filme der politischen Linken entstehen und psychologische Studien gesellschaftliche Strömungen durchleuchten, ist es zu spät: Eskapistische Träume und nationalistische Geschichtsklitterung ebnen den Weg in die Hitler-Diktatur.
Sicherlich hat Kracauers einseitige Interpretation, die mit einer Forderung nach politischer Stellungnahme einhergeht, in manchen Fällen die Sicht auf einzelne Filme verengt oder gar verzerrt. Dennoch ist das Gesamtbild, das er zeichnet, für das Verständnis der Zeit sehr erhellend und lässt durchaus auch Rückschlüsse auf heutige Entwicklungen zu. Die Filmreihe versucht, anhand von ausgewählten Filmbeispielen, die nach Themenblöcken gruppiert sind, Kracauers Positionen nachvollziehbar zu machen. Dabei werden eigene Gewichtungen vorgenommen und auch Filme herangezogen, die Kracauer in seinen Schriften nicht erwähnt, die aber seine Argumentationen unterstreichen.
Die von Stefan Drößler vom Filmmuseum München kuratierte Retrospektive "Von Caligari zu Hitler" wird in zwei Teilen gezeigt, der zweite Teil folgt im April 2017. Desweiteren startet im Rahmen der Retrospektive eine Vorlesungsreihe von Klaus Davidowicz und Frank Stern an der Universität Wien. Die Lehrveranstaltung findet im METRO Kinokulturhaus statt.
Die Filmreihe wird am Freitag, den 20. März 2017, um 18:00 im Metro Kinokulturhaus offiziell eröffnet:
• 18:00 Einführungsvorlesung »Von Caligari zu Hitler – Unterhaltung und Propaganda« von Frank Stern und Klaus Davidowicz
• 19:00 DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM (D 1920), Regie: Paul Wegener und Carl Boese, mit Live-Musik von Richard Eigner aka Ritornell
• 20:30 Podiumsdiskussion mit Klaus Davidowicz, Karola Gramann, Drehli Robnik, Heide Schlüpmann und Frank Stern, Moderation: Melanie Letschnig
Alle Filme der Retrospektive in der Übersicht
Motivkomplex TYRANNEN UND CHAOS
DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM
(Paul Wegener, D 1920)
MO 20.3., 19:00 | SO 2.4., 18:30
NOSFERATU. EINE SYMPHONIE DES GRAUENS
(Friedrich Wilhelm Murnau, D 1922)
MO 27.3., 19:00 | DO 30.3., 21:00
HOMUNCULUS
(Otto Rippert, D 1916)
Österreichische Erstaufführung der rekonstruierten Fassung
SA 1.4., 19:00
DAS CABINET DES DR. CALIGARI
(Robert Wiene, D 1920)
SO 26.3., 19:00 | DI 28.3., 21:00
DR. MABUSE, DER SPIELER
(Fritz Lang, D 1922)
Teil 1: FR 24.3., 20:30 | DO 30.3., 18:00 Teil 2: SO 26.3., 20:30 | FR 31.3., 18:00
Motivkomplex SCHICKSAL, STRASSEN- UND TRIEBFILME
DER MÜDE TOD
(Fritz Lang, D 1921)
SA 25.3., 18:30
VON MORGENS BIS MITTERNACHTS
(Karlheinz Martin, D 1921)
zusammen mit DIE FLAMME (Ernst Lubitsch, D 1922)
FR 31.3., 20:45
SCHATTEN – EINE NÄCHTLICHE HALLUZINATION
(Artur Robison, D 1923) FR 31.3., 18:30
DER LETZTE MANN
(Friedrich Wilhelm Murnau, D 1924)
MI 29.3., 18:30 | SO, 2.4., 16:30
Motivkomplex NATURMYSTIFIZIERUNG
NERVEN
(Robert Reinert, D 1919)
DO 23.3., 20:00
ALGOL
(Hans Werckmeister, D 1920) MO 27.3., 18:00
WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT – EIN FILM ÜBER MODERNE KÖRPERKULTUR
(Wilhelm Prager, D 1925)
DI 28.3., 19:00
DER HEILIGE BERG
(Arnold Fanck, D 1925)
SO 26.3., 16:30
Motivkomplex DIE MODERNE
DER TUNNEL
(William Wauer, D 1915)
SA 1.4., 16:30
ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN
(Ernst Lubitsch, D 1918)
zusammen mit ANDERS ALS DIE ANDEREN
(Richard Oswald, D 1919)
Vorführungstermin(e) werden nachgereicht
WUNDER DER SCHÖPFUNG
(Hanns Walter Kornblum, D 1925)
SA 25.3., 18:00
METROPOLIS
(Fritz Lang, D 1926)
SA 25.3., 20:30
Motivkomplex REALISMUS UND NEUE SACHLICHKEIT
DIE VERRUFENEN
(Gerhard Lamprecht, D 1925)
DO 30.3., 18:45
GEHEIMNISSE EINER SEELE
(Georg Wilhelm Pabst, D 1926)
SA 25.3., 16:30
BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT
(Walther Ruttmann, D 1927)
FR 24.3., 19:00 | FR 31.3., 20:15
MENSCHEN AM SONNTAG
(Robert Siodmak/Edgar G. Ulmer, D 1930)
SA 1.4., 18:00
Text & Fotos (oben "Nosferatu" von 1922, unten "Anders als die Anderen" von 1919): Filmarchiv Austria